Auftritt
Schaubühne am Lehniner Platz: Das Theater als Zauberkiste
„Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ von Robert Lepage – Regie Robert Lepage, Bühne Robert Lepage, Ulla Willis, Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann, Video Félix Fradet-Faguy, Sound Stefan Pinkernell
Erschienen in: Theater der Zeit: Amerikanisches Theater (11/2024)
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Robert Lepage Schaubühne am Lehniner Platz
Wie sehen 80 Jahre deutscher Geschichte aus, betrachtet durch die Linse von Zufall und Glück? Was bedeutet Schicksal in den langen Jahren des zerrütteten 20. Jahrhunderts? Robert Lepage hat erstmals in Deutschland inszeniert und an der Schaubühne einen Abend entwickelt, in dem jede Szene aus dem Dunkeln aufsteigt und dahin wieder verschwindet.
„Glaube, Geld, Krieg und Liebe“ heißt der Abend in vier Akten. Jeder Akt ist mit dem Trumpf eines Kartenspiels verknüpft. Einen Text gab es nicht, Grundlage waren Improvisationen über diese Themen anhand des Kartenspiels. Über der Bühne schwebt ein Gerüst mit vier Bildschirmen, die zu Beginn klassische, blaue Rückseiten eben jenes Kartenspiels zeigen, darüber ebenfalls vier Lautsprecher. Der Rest der Bühne ist leer und wird es oft – bis auf etwas Mobiliar – bleiben. Mit dieser Bühne (Robert Lepage, Ulla Willis) präsentiert der kanadische Regisseur das Theater als eine Zauberkiste und zeigt das Magische im Minimalismus.
Zu Beginn wird ein Baby in einem Nonnenkloster abgegeben, und um das entstehen zu lassen, bedarf es nicht mehr als ein paar Nonnen, die Stäben, Besen, Gewächs, Kiepe und Gitter in einer Drehtür sein können. Diese wird wie von Zauberhand aus dem Dunkel der Hinterbühne hereingefahren. Die Nonnen beschließen, das verwaiste Baby, vermutlich das Kind eines Schwarzen amerikanischen Soldaten und einer Dorfbewohnerin, wie sie von seiner Hautfarbe schließen, selbst großzuziehen, bis es alt genug ist, es in ein Waisenhaus zu geben. Es ist Westdeutschland 1945. Realistische Kostüme (Vanessa Sampaio Borgmann) und Zeitmarker inklusive.
Dieses Baby wird dann in Paris ein erfolgreiches Model (Alina Vimbai Strähler, sie wird die Fäden zusammenhalten), selbst ungewollt Mutter und gibt die Zwillingskinder auf Anraten einer Wahrsagerin, die Tarot mit Spielkarten legt, ebenfalls in ein Waisenhaus, bis sie – schicksalshaft – einen jungen Mann auf einer SOS-Kinderdörfer-Spendengala, deren Gesicht sie ist, kennenlernt, mit ihm anbandelt, bis sie festgestellt, dass es sich um ihren eigenen Sohn handelt.
Der zweite Teil „Geld“ spielt zunächst im Kasino in Baden-Baden, selbstreferenzielle Zaubershow über das Theater als magische Kiste inklusive (als Zauberer Damir Avdic), wo die Tochter eines Unternehmers mit einer Gummifabrik, die im Krieg ihren Profit mit Zwangsarbeit erwirtschaftet hat, wie Anna (Stephanie Eidt) selbst in den Verträgen des Unternehmens ihres Großvaters nachsehen musste. Die Kellnerin im Lokal ist niemand anderes als die Tochter des Models Jeanne Bernard aus dem ersten Teil. Später wird Anna einen Spieleautomatenfabrikanten aus Ostdeutschland zum Essen einladen (Stefan Stern), den sie wiederum mehrmals (zufälligerweise? Schicksalshaft?) trifft.
So kreuzen sich die Geschichten der Figuren, die in die deutsche Geschichte geradezu in einem existenzialistischen Sinne geworfen sind, immer wieder. Im dritten Teil „Krieg“, mittlerweile ist es 2011, sitzt Matthias (Christoph Gawenda), der Sohn ebenjener Anna und ihrem unerträglichen Mann, in der EMDR-Traumatherapie nach seinem Einsatz im Afghanistankrieg als Hundeführer bei der Bundeswehr. Seine Therapeutin Juju ist wiederum die Enkelin von Jeanne Bernard ist (ebenfalls Alina Vimbai Strähler).
Statt nur zu erzählen, werden die Szenen, die der traumatisierte junge Mann durchlebt, auf der Bühne lebendig. Die Bildschirme sind drehbar, können alles zeigen, eine Rückwand im Restaurant oder die Aussicht aus dem Zelt in Kundus genauso wie das Kamerabild einer Livekamera über den Kasinotischen oder fast schon interaktiv zum Spielautomaten werden. Aus der schwarz verhangenen Hinterbühne schiebt die Technik präzise realistische Requisiten auf die Bühne, minimalistisch und absolut ausreichend, um mit etwas Theatermagie einen Zug, einen Innenraum wie ein Restaurant, das Setting einer Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige oder einen Imbiss entstehen zu lassen, in dem wiederum verknüpfte Begegnungen geschehen können, die am Ende des ersten und zweiten Teils sogar dazu führen können, dass die Theatermagie Zeit und Raum auszulösen vermag.
Fünf Stunden lang fließt das Epos dahin, mal mit loseren Figurenkonstellationen, mal – wie im letzten Teil „Liebe“ – konsequent in jedem Detail geschlossen auserzählt, wie Jasko (Damir Avdic), Matthias’ Kamerad bei der Bundeswehr und sein Ehemann Christian (Bastian Reiber), wiederum Jujus Exmann, ein Kind mit einer Leihmutter (Magdalena Lermer) in der Ukraine bekommen wollen. Um als gleichgeschlechtliche Elternteile anerkannt zu werden, muss das Kind in Prag zur Welt kommen, bis – es ist 2021, als die Schwangerschaft qua Befruchtung von Jujus Eizelle beginnt – der russische Einmarsch in Kyjiw die Pläne durchkreuzt.
In der Zusammenarbeit zwischen Lepage und dem grandiosen Ensemble der Schaubühne (die sieben Schauspieler:innen spielen in über 60 Rollen) ist ein Abend entstanden, in dem sich vor allem Themen wie Macht, Rassismus und Abhängig durch die Geschichte Deutschlands ziehen. Theater stellt sich als Theater aus, als die Zauberkiste, die es ist, gleichzeitig fließt der Abend dahin wie eine Netflix-Serie. Lepage leuchtet die Szenen nur als Korridore, als helle Flure, in denen es in der Dunkelheit (deutscher) Geschichte kurz hell wird. Das alles greift emotional kaum, dafür sind die Geschichten zu lose, zu skizzenhaft, gelingt aber technisch perfekt.