Theater der Zeit

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Entortete Stimmen

Der Konzept- und Medienkünstler Olaf Nicolai über seine Arbeiten „Giro“ und „Non Consumiamo … (to Luigi Nono)“ bei der diesjährigen Biennale in Venedig im Gespräch mit Thomas Irmer

von Thomas Irmer und Olaf Nicolai

Erschienen in: Theater der Zeit: Tilmann Köhler und Miriam Tscholl: Montagswirklichkeit Dresden (11/2015)

Assoziationen: Akteure

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Olaf Nicolai, Ihre Arbeit „Giro“, bei der Bumerangs vom Dach des Deutschen Pavillons der Biennale in Venedig geworfen wurden, fand viel Beachtung. Kann man „Giro“ als Performance begreifen?
Die Arbeit ist auf das Thema des deutschen Pavillons – das Erzeugen, Verbreiten, das Wahrnehmen und die Funktion von Bildern unter den heutigen Bedingungen – angelegt. Der Kurator Florian Ebner spricht vom „Pavillon als Fabrik“, von einem Ort „reproduzierender Bilder“. Wenn Besucher meine Arbeit sehen wollen, müssen sie sich zurückbewegen von dem Pavillon, nach oben schauen, ob sie etwas sehen, das mit den Informationen, die sie schon haben, zusammenpasst. Insofern sind sie mittendrin in diesem Prozess des Sich-ein-Bild-Machens. Das, was sie da oben sehen, würde auch ohne sie stattfinden. Die Zuschauer können das nicht total erfassen, aber das ist keine künstliche Verhinderung, sondern eine praktische Anordnung. Auf dem Dach befindet sich eine Werkstatt, in der Bumerangs hergestellt und dann ausprobiert bzw. so weiterentwickelt werden, dass sie unter diesen konkreten Bedingungen vom Dach des Deutschen Pavillons am besten funktionieren, was heißt: in einer Schleife fliegen.

Warum ist es wichtig, dass der Pavillon auch der Ort der Produktion ist?
In einem produzierten Gegenstand vergegenständlichen sich die Bedingungen seiner Produktion. So eben auch der Pavillon im Bumerang. Und dieser Moment des Vergegenständlichens interessiert mich: Der Bumerang repräsentiert in seiner Form den Deutschen Pavillon. Die Grundform eines Bumerangs wird für jeden Ort modifiziert. Und jeder Werfer wirft anders, individualisiert seinen Bumerang. Dazu kommen die wechselnden Windbedingungen. Deshalb erhält jeder Besucher als Erstes eine Windkarte, die die Windbedingungen an einem der ersten Tage dokumentiert. Aus diesem Verhältnis des Konkreten und Individuellen und der Symbolik des Orts entsteht Spannung. Im Vergleich zum Theater wäre das so zu beschreiben, dass diejenigen, die die Aufführung vollziehen, sich nicht darum kümmern, ob sie dabei gesehen werden – weil es eben nicht für die Sichtbarkeit gemacht ist.

Was ist der Link zu dem anderen Projekt in Venedig, „Non Consumiamo …“, einer Luigi Nono gewidmeten Installation mit Sängern, die in der von Okwui Enwezor kuratierten Ausstellung in der Arena zu sehen ist?
Was beide Arbeiten verbindet, ist, dass beide Arbeiten erst durch die Personen, die in ihnen agieren, entstehen. Auch bei der Arbeit mit den Sängern ist das Verhältnis zum Publikum ambivalent. Die Sänger ignorieren die gegebene Bühne, agieren nur miteinander; ohne Rücksicht auf das Publikum bewegen sie sich frei durch die Ausstellungsräume. Die Arbeit entstand aus der Anregung Okwui Enwezors, sich auf die während der Biennale abgehaltene Lesung von Marx’ „Kapital“ performativ zu beziehen.

… wohl auch vor dem Hintergrund der früheren Arbeit „Escalier du chant“ (2011), wo Sänger mit eigens für diese Auftritte komponierten Liedern die Besucher der Münchner Pinakothek der Moderne überraschten.
Richtig. Vor allem aber auch vor dem Hintergrund, dass der venezianische Komponist Luigi Nono sich intensiv mit Texten von Marx auseinandergesetzt hat. Es gibt von ihm ein Stück von 1968, das sich mit der Biennale beschäftigt, es heißt „Non Consumiamo Marx“ (Wir wollen Marx nicht konsumieren), wo Nono die Studentenproteste gegen die Biennale, an denen er selbst aktiv teilnahm, aufgenommen hatte. Diese Tonbandspur wurde dann zum Orchesterersatz, und er schrieb sein Stück für Tonband und eine Stimme. Dahinter stand die Idee, dass man mit einfachen Mitteln – ohne Orchester und Konzerthaus – Musik zugänglich machen kann.
Jetzt ist der Protest von damals – allein schon mit der Marx-Rezitation – im Zentrum der Biennale angekommen, was natürlich eine paradoxe, aber signifikante Situation entstehen lässt: Der Protest gegen die Biennale wird Teil ihrer Ausstellungskultur. Wenn man sich die Texte anschaut, mit denen Nono arbeitete, so fällt auf, dass er diese stark bearbeitete, vor allem ihre Klangwerte heraushob. Es gibt einen Widerspruch zwischen den inhaltlichen Thesen der Texte und der sinnlichen Erfahrung des Klangs, der akustisch intensiv, aber eben nicht inhaltlich verständlich ist. Den fand ich interessant, das war mein Ansatz für diese Sänger, von denen einige noch selbst mit Nono gearbeitet haben. Ich habe mit den Sängern Regeln zur Improvisation erarbeitet, die sie auf ein Libretto anwenden, das sie monatlich erhalten. Das sind Textcollagen, in denen außer von Marx und seinen Zeitgenossen Baudelaire, Flaubert und Rimbaud auch Texte von Nono selbst, von William S. Burroughs bis Inger Christensen und Tocotronic verwendet werden. Auf diese neu verwobenen Texte reagieren die Sänger. Mich hat von Anfang an dabei fasziniert, wie Nono selbst mit Texten anderer gearbeitet hat. Das ist dem poetischen Fragmentverfahren Heiner Müllers, der ja auch ein „Bruchstück für Luigi Nono“ geschrieben hat, recht nahe. Ein Bruchstück, das du herstellst, ist etwas anderes als eins, das du findest.

Heiner Müller sprach vom „synthetischen Fragment“ …
… das sich selbst auflädt, weil es ja hergestellt ist. „Du hast nichts – teile es auf!“ ist der Beginn eines Librettos. In einem anderen geht es um den Kristall, der im ersten Band des „Kapitals“ immer wieder als Abstraktionsform vorgestellt wird. Das berührt auch die Frage, welche Rolle Metaphern in Erkenntnisprozessen übernehmen. Solche Metaphern kommen fast nur im ersten Band des „Kapitals“ vor. Was die These stützt, dass beim Verfassen der beiden anderen Bände vor allem Engels aktiv war. Ein anderes Libretto beschäftigt sich mit Spiegeln und Doppelgängern, ein weiteres mit dem Vampir, den Marx zur Veranschaulichung der Funktion des Kapitals und seiner Zirkulation nutzt. Es ist eigentlich nur der erste Band, wo im Sprachlichen versucht wird, das Sinnliche und die Abstraktion zu verweben.

Die Sänger sind aber nur bei ihren Live-Performances vor Ort …
Deshalb kann man sich einen Rucksack ausleihen, ähnlich wie ihn Straßenmusiker für den Verstärker tragen. Dort kann man zwei Knöpfe für die Gesangsstimmen betätigen und zwei für Live-Nachrichten aus dem Internetradio – und damit durch die Ausstellung gehen und das sozusagen selbst abmischen. Auch ein Stück für „Konserve“ und Stimme. Die Sänger sind auf der Welt verstreut und schicken ihre „sound postcard“ nach Venedig, wo sie dann auf der Tonspur des Rucksacks gespeichert werden. Für den Rucksackträger geht es – anders als im Konzerthaus – eben auch um eine Unmittelbarkeit durch Technik, wenn er diese Stimmen mit sich herumträgt, die aber eigentlich entortet sind.

Wie wurden oder werden die Sänger „betreut“, führten Sie Regie?
Wir haben gemeinsam Workshops gemacht, zu den Texten, aber auch zu den Möglichkeiten ihres selbständigen und unabhängigen Arbeitens. Danach waren sie dann auf sich gestellt. Parameter wie Länge, gesprochene oder gesungene Sprache sind gemeinsam festgelegt und auch geprobt worden. In den tatsächlichen Live-Auftritten gibt es eben auch den unwiederholbaren Moment von Improvisation, während die Rucksäcke natürlich eine Konserve enthalten.

Ist das Lied dafür, auch weil es in der Struktur eher kurz ist, die am besten geeignete musikalische Form?
Der Sänger kann – darauf kommt es hier bei dieser Arbeit in der Ausstellung sehr an – sich dazu bewegen, ohne dass es ein Vortrag wird, der sich an ein Publikum wendet! Es ähnelt einem Theater ohne Publikum, das auf ein Publikum trifft. //

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