Auftritt
Ingolstadt: Im Nasenloch eines gefrorenen Riesen
Stadttheater Ingolstadt: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin. Regie Mareike Mikat, Bühne Simone Manthey, Kostüme Anna Sörensen
von Sabine Leucht
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Lieblingsfeind steht links – Über Theater und Polizei (12/2020)
Assoziationen: Stadttheater Ingolstadt
Dass dieses Schattenspiel albern ist, sieht man selbst in der hausinternen Videoversion des Abends, auf die ich zurückgreife, weil der „Shutdown light“ Mareike Mikats Inszenierung von Vladimir Sorokins „Der Schneesturm“ vorübergehend vom Spielplan gefegt hat. Da sitzt also die Müllerin als riesiger Schatten auf der Rückwand der großen Bühne des Stadttheaters Ingolstadt – und um sie herum springt das Zamperl, das ihr Mann sein soll. Irgendwann versinkt es kopfunter zwischen zwei steil aufragenden Bergen, deren Gipfel Brustwarzen krönen. Ja, albern ist das schon, aber alles andere als falsch. Denn auch Sorokins 2010 erschienener Roman hat zwei Seiten. Mindestens zwei. Da ist zunächst seine liebevolle Wilderei in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Ein Landarzt macht sich mitten im russischen Winter auf in ein Dorf, in dem eine Epidemie wütet, und gerät dabei in einen Sturm. Setting, Motive und Personenkonstellation erinnern an Tolstoi, Puschkin und Tschechow, das sich immer weiter entfernende Ziel an Kafka. Das Gefühl der wohligen Vertrautheit aber verhindern fast beiläufig eingestreute Elemente eines Sci-Fi-Märchens: Die Epidemie verwandelt Menschen in maulwurfsähnliche Untote, das „Mobil“, mit dem der Arzt Garin und sein Kutscher Krächz unterwegs sind, wird von fünfzig Minipferdchen gezogen, von denen keines „größer als ein Rebhuhn“ ist. Die Schlittenkufen brechen unter anderem im Nasenloch eines gefrorenen Riesen, und eingangs erwähnter Müller ist tatsächlich ein Zwerg.
Aus der Kollision dieser beiden Ebenen entsteht in retrofuturistischer Sprache das beunruhigende Bild einer Gesellschaft, das sich auf das heutige Russland, aber auch auf die Illusion der Naturbeherrschbarkeit beziehen lässt, die uns in diesen pandemischen Zeiten gerade um die Ohren fliegt. Bei Sorokin wie in Ingolstadt bleibt das dem Leser respektive Zuschauer selbst überlassen, weil weder der süffige Roman noch der ihm darin ebenbürtige Abend mit Botschaften wedeln. Ja, vielleicht kommen die Tumulte im Kräfteverhältnis von Herr und Knecht bei Mikat etwas zu kurz, weil sie Garin am Ende nur wenige Sekunden alleine im Schneesturm herumirren lässt. Bei Sorokin nutzt sich sein gerade erwecktes Herrenmenschendenken dabei gehörig ab, und der Leser hat ausreichend Zeit zu bewundern, wie der Autor in dieser Figur die moderne Rastlosigkeit ad absurdum führt, die wir so gerne für Zielstrebigkeit halten. Hier kriecht das von Martin Valdeig gespielte „Doktorchen“ so rasch wie kleinlaut zurück in das Mobil, das auf Simone Mantheys nahezu leerer Bühne ein multifunktionaler, mit Fellen bedeckter Divan ist. Dass der für eine gänzlich andere Lebensart stehende, mit der Gegenwart seiner „Pferdis“ zufriedene Kutscher in derselben Nacht stirbt, wird vom Krächz-Darsteller Péter Polgár mit dessen unerschütterlicher Fröhlichkeit erzählt, während Garin von einer Truppe Chinesen „gerettet“ wird, die mit ihren Gasmasken wie Stormtrooper aussehen.
Aussagen über das Mienenspiel der Schauspieler kann man anhand der Videoaufzeichnung ebenso wenig treffen wie über die Güte des Soundtracks, der nach einer Komposition des Musikers Enik live im Bühnenhintergrund angerührt wird. Was man sieht – ohne die Instrumente und Werkzeuge zu erkennen, mit denen sich hier mehrere Ensemblemitglieder als Geräuschemacher und Musiker betätigen –, aber akustisch nur erahnen kann. Sehr klar wird hingegen die schöne Balance zwischen nostalgisch und futuristisch anmutenden Bühnenzitaten und Erzählweisen. Die Schauspieler tragen bunte Kopftücher und Russenmützen, um die Protagonisten herum bemühen sich fünf weitere Erzähler um den Fortgang der Geschichte, schwenken an Angelruten hängende Lämpchen für den Sternenhimmel oder bringen Kunstschnee aus Blasrohren direkt an den Mann. Mit bestrumpften Armen werden die Minipferdchen markiert, und knirschende Schritte im Schnee wie sämtliche Sturmgeräusche werden live erzeugt. Mit dieser handgemachten Ästhetik unterläuft die Ingolstädter Oberspielleiterin charmant die Erwartungen an ein magisch-realistisches Bebilderungstheater, das der Roman durchaus wecken kann. Aber auch filmische Einspielungen von verschneiten Waldwegen gibt es, das Hologramm einer Radiosprecherin oder eben ein albernes Schattenspiel: Das passt in seiner dezidierten Heterogenität ebenso prächtig zusammen wie zum Stoff. //