Kapitalismus/Gefühle
Anachronismus und Utopie in der Dreigroschenoper
von Günther Heeg
Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)
1. Anachronismus
Das Jahr 1928, das Jahr der Uraufführung der Dreigroschenoper, war das letzte Jahr der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik, der kurzen Zeit einer mit Krediten finanzierten Prosperität zwischen der Inflation von 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929. Es ist die Zeit, die den Mythos der Goldenen Zwanziger Jahre geschaffen hat, die Zeit, in der der Amerikanismus als kulturelle Lebensform erstmals seine Anziehungskraft entfaltet:2 Massenkonsum hier und jetzt statt Verzicht und Gratifikationsaufschub. Tanz- und Kinopaläste, Revuetheater und Luna Parks werden zu Orten der Entsublimierung und des sexuellen Vergnügens der neuen Klasse der Angestellten, wie Siegfried Kracauer sie beschrieben hat.3 Sie bieten das neue Gesicht eines Kapitalismus, der vom Konsum angetrieben wird und keinen Triebverzicht mehr braucht. Sondern dem die Devise: »Vor allem aber achtet scharf, / Dass man hier alles dürfen darf« zum Lebenselixier geworden ist. Die Aufforderung zum unbeschränkten Genießen darin stammt nicht aus der Dreigroschenoper, sondern ist ein Zitat aus der zwei Jahre später aufgeführten Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, ebenfalls von Brecht und Weill. Mahagonny, das zur Goldgräber- und Städtegründerzeit im Wilden Westen spielt, scheint im Vergleich zur Dreigroschenoper auf den ersten Blick die weitaus modernere Oper zu sein. Moderner...