Theater der Zeit

Schweizer Fenster

Mit der Marionette über Grenzen hinweg

Ein Gespräch mit Chine Curchod

Die Genfer Figuren- und Schauspielerin Chine Curchod hat im vergangenen Jahr den Prix ASSITEJ des Schweizer Zweigs der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche ASSITEJ erhalten. Franziska Burger hat mit Curchod ein Gespräch über ihre Arbeit in den Bereichen Figuren- wie auch Kinder- und Jugendtheater geführt und dabei auch die Bedeutung der unsichtbaren (Sprach-)Grenze zwischen der West- und Deutschschweiz für Theaterschaffende gestreift.

von Franziska Burger und Chine Curchod

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Akteure Puppen-, Figuren- & Objekttheater Schweiz

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Um dieses Interview durchführen zu können, mussten einige Hürden überwunden werden. Coronabedingte Distanz-Regeln, Terminfindung in intensiven Probezeiten und dann kam noch eine Sprachbarriere hinzu: Weder die Interviewerin noch die Interviewte sprechen die Sprache des Gegenübers gut genug, um das Gespräch ohne grössere Missverständnisse bewältigen zu können. Schnell stand fest, dass das Interview wohl besser schriftlich umgesetzt wird – und so antwortete Chine Curchod dann zwischen den Proben zu ihrem neuen Projekt per E-Mail.

Die aus Genf stammende Figuren- und Schauspielerin wurde im September letzten Jahres mit dem Prix ASSITEJ 2021 geehrt. Nach mehreren Engagements als Schauspielerin hat sie 2008 die Cie Chamarbellclochette gegründet und mit „Ne m’appelez plus jamais mon petit lapin“ und „Loulou“ ihre ersten Stücke für ein junges Publikum realisiert. Es folgten mehrere Projekte im Bereich Kinder- und Jugendtheater, alle in unterschiedlichen Formationen und umgesetzt mit verschiedenen Mitteln des Figurentheaters.

Derzeit steckt sie mitten in den Proben zur Produktion „Im Wald“, die sie zusammen mit Roland Bucher realisiert. Mit dem Luzerner Musiker kollaboriert Curchod seit 2016 regelmässig und gemeinsam haben sie schon mehrere experimentelle Musik-Theater-Performances für ein junges Publikum umgesetzt. „Im Wald“ ist nach „Aouuuu!“ (zusammen mit Marius Kob) bereits das zweite Projekt von Chine Curchod, das vom Théâtre de Marionnettes de Genève und dem Theater Stadelhofen in Zürich koproduziert wird und so die beiden grössten Sprachregionen des Landes verknüpft.

Franziska Burger: Was war zuerst: Kindertheater oder Figurentheater?

Chine Curchod: Zu Beginn meiner Karriere war ich Schauspielerin im Erwachsenentheater, in verschiedenen Stücken unterschiedlicher Stilrichtungen. Eines Tages schlug mir eine befreundete Schauspielerin vor, am Théâtre des Marionnettes in Genf einen von Guy Jutard und Liviu Berehoï geleiteten Kurs für Fadenmarionetten zu besuchen. Das war eine echte Offenbarung! Seitdem habe ich die Welt der Marionetten nicht mehr verlassen und meine eigene Theatergruppe [Cie Chamarbellclochette, Anm. d. Red.] gegründet.

Was inspiriert Sie? Wo finden Sie die Ideen für Ihre Produktionen?

Ooh la la, viele Dinge und fast alle Künste inspirieren mich! Kinderbücher natürlich, aus denen mehrere Stücke entstanden sind. Ich bin auch stark vom Kino beeinflusst – dank meiner cinephilen Mutter –, so ist meine Arbeit geprägt von Jacques Tati, Jacques Demi, Roy Anderson usw. Die Musik spielt bei der Art und Weise, wie ich die Rhythmen meiner Werke gestalte oder wie ich einer wortlosen Aussage Kraft verleihe, eine grosse Rolle. Die Fotografie und die Malerei beeinflussen mich bei der Gestaltung von Bühnenbildern und des Lichts.
Und zu guter Letzt der Comic. Er wird manchmal als minderwertige Kunst angesehen, aber oft findet sich in Comics mehr Erfindungsreichtum als in der Literatur. Eine ähnliche Beziehung wie die der Marionette zum sogenannten klassischen Theater.

In ihrer Laudatio für den ASSITEJ-Preis beschrieb Isabelle Matter, die Leiterin des Théâtre des Marionnettes de Genève, das Aufbrechen von Grenzen als zentralen Motor Ihrer Arbeit. Damit bezog sie sich auf das Überschreiten von Sprach- und Landesgrenzen, aber auch von Genregrenzen – etwa wenn es darum geht, Puppen und Schauspieler*innen einander näher zu bringen –, sowie auf Ihre Vermittlungsarbeit mit Kindern und Erwachsenen. Welche anderen Bereiche möchten Sie noch erforschen?

Ja, das stimmt, ich liebe es, neue Facetten des Figurenspiels zu erforschen. Es ist auch sehr motivierend, andere Künstler*innen zu entdecken, andere Arten des Umgangs mit Material oder andere Arten, ein Stück zu produzieren.
Meine nächste Herausforderung ist es, mit dem Stück „Im Wald“ eine Figurentheaterproduktion für Erwachsene zu kreieren. Hier werden wir auch Robotik einsetzen! Darauf folgt eine Kreation mit zeitgenössischem Tanz in Zusammenarbeit mit der Kompanie Mafalda (ZH) von Teresa Rotemberg.
Es ist mir ein grosses Anliegen, das Puppenspiel in den Vordergrund zu rücken, daher ist es sehr wichtig, Brücken zwischen den verschiedenen Künsten und dem Publikum zu bauen, damit dieses unseren spannenden Beruf entdecken kann.

Nach „Aouuuu!“ ist „Im Wald“ die zweite Koproduktion, die mit dem Théâtre des Marionnettes de Genève und dem Theater Stadelhofen in Zürich realisiert wird. Was sind die grössten Herausforderungen und Aha-Momente bei der Arbeit über den „Röstigraben“ [die Sprachgrenze zwischen dem französisch- und dem deutschsprachigen Sprachraum in der Schweiz, Anm. d. Red.] hinweg?

Natürlich ist es zuallererst die Sprache! Mein Deutsch ist sehr schlecht (ups), glücklicherweise sprechen meine deutschsprachigen Partner*innen oft viel besser Französisch (das ist ziemlich typisch für die Schweiz). Aber manchmal fabrizieren wir ein Sprachmischmasch, das ist lustig und funktioniert meist. Unsere gemeinsame Sprache ist die Figur, und wir schaffen es, gemeinsam einen Stoff zu entwickeln, ohne die jeweils andere Sprache perfekt zu sprechen.
Ein weiterer Aspekt, den es zu bewältigen gilt, ist die geografische Entfernung der Künstler*innen. Bei „Im Wald“ geht es zum Beispiel um Robotik. Yangalie Kohlbrenner, die Puppenbauerin, hat einen Prototypen angefertigt, den sie für die Programmierung per Post an Renato Grob, unseren Robotikspezialisten, geschickt und dann wieder zurückerhalten hat.
Es kann auch sein, dass wir nicht von den gleichen künstlerischen Referenzen ausgehen, aber gerade dann entdecken wir alle neue Dinge!

Seit einigen Jahren arbeiten Sie regelmässig mit dem Luzerner Musiker Roland Bucher zusammen. Diese Projekte zeichnen sich durch ihre Experimentierfreude und die Tatsache aus, dass sie sich von der Sprache entfernen und sich der Musik nähern.

Mit Roland Bucher habe ich einen grossartigen Spielpartner gefunden. Wir lieben die Improvisation und den Zufall, und haben die gleichen Vorstellungen, was das Erzählen und den Ausdruck betrifft.
Unsere erste Zusammenarbeit „Robot“ kam dank einer ‚Carte Blanche‘ des Mullbau in Luzern (Konzertsaal für improvisierte Musik) zustande. Wir stellten uns der Herausforderung, live einen Roboter aus Alltagsgegenständen zu bauen und so eine Höllenmaschine à la Tinguely zu erschaffen. Dann gaben uns Françoise Blancpain und Eveline Eberhart vom Stadelhofen Theater Zürich freie Hand für ein neues Projekt. Einzige Bedingung war, es musste eine Kreation für Erwachsene sein. Dann kam der Lockdown. Er brachte alles durcheinander, stoppte alles, fegte alles weg. Er zwang uns, innezuhalten, uns zu beruhigen. Im Moment zu leben und unsere Umgebung zu beobachten, hat sich als unsere Hauptbeschäftigung herausgestellt. Die Vögel, die kleine Katze, die vorbeikommt, die nächtlichen Geräusche, die Bäume, der Wind ... Wir liebten es. Und wir dachten, dass das grossartige Angebot des Theater Stadelhofen eine Gelegenheit sein könnte, über einige unserer Ansichten zur Natur zu sprechen.

Ist das Weglassen der Sprache in diesen experimentelleren Formaten eher eine Inspiration bzw. künstlerische Motivation oder hat es pragmatische Gründe?

Beides gleichzeitig! Ich mag es, wenn das Bild die Sprache übertrumpft, ich finde das erstaunlicherweise oft poetischer, anschaulicher!

Die Stadt Genf, in der Sie aufgewachsen sind, ist in der Schweiz mit Institutionen wie dem Théâtre des Marionnettes und dem Théâtre Am Stram Gram ein Mekka für Kindertheater UND Puppentheater. Inwiefern war das prägend für Sie, für Ihre Kindheit wie auch für Ihre Entwicklung als Künstlerin und für Ihre Theaterarbeit?

Der Einfluss war enorm, sowohl meine Lehrpersonen in der Schule als auch meine Eltern haben mich ständig ins Theater mitgenommen! Wir verbrachten unsere Zeit abwechselnd im Théâtre des Marionnettes, im Théâtre Am Stram Gram und im Théâtre du Loup, was für ein Luxus!
Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es von grösster Bedeutung ist, dass Kinder unabhängig von ihrer sozialen Schicht Zugang zu Kultur haben. Das haben die Stadt und der Kanton Genf sehr gut verstanden. Man muss wissen, dass die Voraussetzungen für dieses Angebot im Bereich Kindertheater in Genf schon in den 1970er Jahren geschaffen wurde und natürlich ist das auch einigen Politiker*innen zu verdanken, die an die Wichtigkeit kultureller Teilhabe geglaubt haben. Und dank mehrerer engagierter Personen haben das Theater für ein junges Publikum und das Figurentheater nun einen festen Platz und geniessen öffentliche Anerkennung.
Ich sehe, dass es auch in der Deutschschweiz einen Willen gibt, die Dinge dahingehend zu verändern. Zum Beispiel im Kanton Aargau mit dem Theaterfunken [einem dezentralen Kinder- und Jugendtheaterfestival inkl. vermittelnder Begleitangebote, Anm. d. Red.] oder in verschiedenen Theatern, wo es jetzt verstärkt Überlegungen in Richtung kultureller Teilhabe gibt. Man muss geduldig und vor allem beharrlich sein.

www.chamarbellclochette.ch

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