Theater der Zeit

Auftritt

Cottbus: Seidenstraße Lausitz

Staatstheater: „Feinstoff. Vier Versuche mit Seide“ (UA) von Lars Werner. Regie Raffael Ossami Saidy, Bühne & Kostüm Susanne Brendel

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Brandenburg Theaterkritiken Staatstheater Cottbus

Wider die Gegenwartsfixiertheit: Lars Werners „Feinstoff. Vier Versuche mit Seide“ als Inszenierung von Raffael Ossami Saidy am Staatstheater Cottbus. Foto Marlies Kross
Wider die Gegenwartsfixiertheit: Lars Werners „Feinstoff. Vier Versuche mit Seide“ als Inszenierung von Raffael Ossami Saidy am Staatstheater Cottbus.Foto: Marlies Kross

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Die vier Versuche mit Seide gehen zunächst einmal auf die historische Tatsache zurück, dass Friedrich II. in Preußen eine Seidenproduktion aufbauen ließ, mit der das ausländische Monopol in Frankreich und Italien gebrochen werden sollte. Maulbeerbäume zur Fütterung der Seidenraupenlarven wurden gepflanzt, auch in Cottbus und überhaupt aller Witterung zum Trotz. Ein Vulkanausbruch auf Island 1783 bereitete dem Ganzen mehr oder weniger ein Ende, aber die Anbautradi­tion starb nicht ganz ab. Bis im Zweiten Weltkrieg auf diese Weise hergestellte Seide ­wieder sehr gefragt war – für Fallschirme – und sogar Schüler in die nun kriegswichtige Produktion einbezogen wurden.

Auf dieser Ebene setzt das Stück am sorbischen Gymnasium in Cottbus ein. Petr Szczepanski, Lehrer sorbischer Schüler in der NS-Zeit, muss sich in seiner Schule verstecken, aber eine seiner in die Behinderung der Seidenproduktion verstrickten Schülerinnen kennt auch das von ihm geschätzte Werk „Morus Alba“ der Charlotte Neuber aus Friedrichs Zeiten. Diese fiktive Dichtung über den asiatischen Maulbeerbaum und dessen Anpflanzung in Preußen führt in den zweiten ‚Versuch‘, in dem jene Charlotte Neuber im Waisenhaus ihrem Seidenraupen-König begegnet. „Morus Alba“ wiederum ist im dritten ‚Versuch‘ der Name einer von der Stasi verfolgten Gruppe von Cottbuser Umweltaktivisten, die 1983 auf die Folgen des massiven Abbaus von Braunkohle und deren umweltschädlicher Verfeuerung für Elektrizität aufmerksam machen will. Im vierten ‚Versuch‘ springt das Stück in die Zukunft des Jahres 2154, in der die Niederlausitz, wo aktuell mit Deutschlands größtem künstlichen Gewässer gerade an einer zweiten Ostsee gebastelt wird, eine tropische Landschaft geworden ist. Kinder erforschen dieses neue Biotop, in dem Maulbeerbäume zwar prächtig gedeihen würden, aber wohl niemand mehr Seide als Kleidung oder für Kriegsausrüstung braucht. Wenn man so will, wird mit der Seide (und jenem fiktiven poetischen Werk darüber) ein diskontinuierliches Geschichtsbild gesponnen, das drei quasi-dokumentarische Ebenen der Vergangenheit in die katastrophische ­Zukunft führt.

Für den Zusammenhang von politischem Willen, Wirtschaft und Umwelt hat Lars Werner noch die Figur eines Stadt­­planers erfunden, der praktisch wie ein ­Moderator in die jeweilige Szene einführt. Außerdem gibt es in der Inszenierung auch Schrift-Projektionen zur historischen Orientierung. Der Stadtplaner, der wechselnd von den vier Schauspieler:innen gespielt wird, ist die leitende Idee des jungen Regisseurs ­Rafael Ossami Saidy für den Zusammenhang der so unterschiedlichen Szenen. Wie in einem Arrangement für eine Begleitband steht diese Figur auf der Bühne links an einem Keyboard mit Mikro, manchmal auch mit Gesang in der Komposition von Simon Kluth.

In der Struktur somit ein Anklang von Revue, wirken die einzelnen Szenen doch weitaus schwerer. Thomas Harms spielt den sich versteckenden Lehrer als einen Widerstandsvisionär, der Sorben und der Seide ­wegen. Dass das Buch „Morus Alba“ ihm so wichtig ist, begreift man erst in der folgenden, zeitlich zurückspringenden Szene, in der Harms als Friedrich II. auf dessen Verfasserin Charlotte Neuber (Sophie Bock) in einem Waisenhaus trifft und das Verhältnis von Preußentum und Kunst noch einmal grundsätzlich (nach Peter Hacks und Heiner Müller) behandelt wird. Seide ist hier eher das Me­dium zwischen Macht und Machbarkeit mit Untertanen. Die intensivste Szene ist Saidy zweifellos mit dem Stasi-Verhör der Pauline Schmitz aus der Umweltgruppe von 1983 gelungen. Susann Thiede spielt diese durch Schlafentzug und endlose Befragungen gequälte Figur bis zum kleinen Verrat, der aber nun in dem großen Panorama um Seide in Cottbus zwar erschüttert, aber wohl doch nicht mehr alles bedeuten kann. Am Ende tasten drei Kinder durch die mit nur wenigen Elementen wie Sitzkuben bestückte Bühne von Susanne Brendel, während die vier Schauspieler:innen unter einer erleuchteten Seidenplane zurück in die Zukunft und ins Publikum schauen.

Das Stück des 1988 in Dresden geborenen Lars Werner ist ein Auftragswerk des Staatstheaters im Süden Brandenburgs. Oft werden in solchen Fällen regionale Themen bearbeitet und für die Bühne aufbereitet, als angewandte Heimatkunde. In diesem Fall muss jedoch von einem großen Wurf die Rede sein, der auf geradezu neuartige Weise verschiedene Zeitschichten so aneinander stellt, dass nicht nur ein fast vergessenes Phänomen wieder zum Vorschein kommt, sondern dies auch in neuen Zusammenhängen behandelt wird. Die zwanghafte Gegenwartsfixiertheit der neuen deutschen Dramatik überwindet der Autor mühelos – mit hohem Anspruch. //

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