Theater der Zeit

Gastbeitrag

Theater im Karton

Das Volksbühnenarchiv in der Akademie der Künste

In dieser Serie stellen Theaterarchive und -museen ihre Sammlungen vor.

von Andrea Clos

Assoziationen: Berlin Dossier: Theater & Archiv Anna Viebrock Bert Neumann Herbert Fritsch Frank Castorf René Pollesch Akademie der Künste Berlin

Alte Dias in Briefumschlägen in Kartons: Die Fotorestaurierung des Archivmaterials der Volksbühne Berlin an der Akademie der Künste Berlin.
Alte Dias in Briefumschlägen in Kartons: Die Fotorestaurierung des Archivmaterials der Volksbühne Berlin an der Akademie der Künste Berlin.Foto: Akademie der Künste [AdK], Berlin, Volksbühne Berlin, Anne Duda

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Im Juni 2018 fand in der Akademie der Künste eine Debatte mit dem Titel „Vorsicht Volksbühne“ über die Zukunft des städtischen Theaters statt1. Hoch emotional diskutierten Angehörige der Volksbühne, Künstler:innen der freien Szene, Theaterwissenschaftler:innen, der Kultursenator, der Interimsintendant und das interessierte Publikum über die Zukunft des für die Volksbühnenzeit von Frank Castorf, Bert Neumann, Herbert Fritsch und René Pollesch so symptomatischen Theaters. Die Befürchtungen um den Verlust von akkumuliertem Wissen und die Frage: „Wo geht das ganze Wissen hin? Wer wird das Wissen um dieses Theater bewahren?“ wurden auf dem Podium diskutiert, und die Versuchung eines Zwischenrufes: „WIR - DAS ARCHIV“ war schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich groß. 

Vorausschicken sollte man, dass die Emotionen bei der Übernahme des Volksbühnenarchivs mindestens ebenso hoch schlugen wie bei dieser Akademieveranstaltung. Man hatte sich mit Senat und Landesarchiv auf eine Abgabe an das Theaterarchiv der Akademie der Künste geeinigt. Abweichend von der üblichen Zuständigkeit, war die Akademie der Künste vor allem wegen der Überschneidung zu Personenarchiven von u.a. Erwin Piscator, Benno Besson und Manfred Karge, die dort liegen, sowie einer hohen Benutzerfrequenz aus dem Theaterbereich der gewählte und zur Übernahme bereite Adressat. Ca. 140 Inszenierungsdokumentationen von Volksbühneninszenierungen waren schon vor Übernahme des Volksbühnenarchivs im Besitz unseres Theaterarchivs. 

Ein Archiv wie das unsere hat durchaus Möglichkeiten, Theater wieder sichtbar zu machen, Prozesse nachzuvollziehen und einzelne Puzzleteile aus verschiedenen überlieferten Materialien so lange zusammenzusetzen, bis ein durchaus lebendiges Bild des Vergangenen entsteht. Dieses Quäntchen kriminalistischen Spürsinns, der notwendig ist, um Theaterbilder sichtbar, Beziehungen zwischen Prozessen und Menschen deutlich zu machen – selbst wenn sie Jahrzehnte zurückliegen –, ist Berufung in diesem Beruf. Wir können das Wissen darum bewahren und auch in Zukunft dem Besucher alle Seiten eines solchen Inszenierungsprozesses zur Verfügung stellen. Wir können das Medium nicht erhalten, aber vielleicht in Schrift und Bild die künstlerische Leistung vermitteln. Der Mythos der Castorf-Ära liegt mitnichten „wie ein Alb auf jedem Gespräch und in jedem Detail“2, nein, er steckt zu unserer Freude in jedem Text, in jedem Foto, jedem Kostümdetail, jedem Werbetext.  

Die Übernahme des Volksbühnenarchivs Ende 2017 war allerdings auch für uns eine große Herausforderung. Mit dem Weggang des Intendanten Frank Castorf entstand dort der Wunsch, zuerst die Website der Volksbühne zu sichern. Der Dramaturg Thomas Martin wandte sich an den Leiter des Archivs Darstellende Kunst in der Akademie der Künste, Stephan Dörschel, und dann ging alles sehr schnell. Aus Websites wurden Wagenladungen, und im Juli 2017 verlud die Spedition Kühne laut Lieferschein 600 Umzugskartons, 1 Palette und 3 Plastikwannen Plakate, 5 Konvolute Entwürfe und Pläne. 

Das Volksbühnenarchiv war damit das größte Verwaltungsarchiv, welches wir je übernommen haben. Dank der Kolleginnen der Volksbühne, Barbara Schultz und Elke Becker, wurden die Materialien gut geordnet und mit Übergabelisten nach Zimmern versehen verpackt. Die Ordnung in der Volksbühne war eher eine nach Materialarten. In den Zimmern wurden entweder Plakate oder Inszenierungsdokumentationen aufbewahrt. Dramaturgisches Material war ebenso Bestandteil des Archivs wie Text- und Regiebücher, Intendanzakten, Ausstellungsmaterial früherer Jubiläen, Großfotos, Negative und Kontakte, Werbe- und Pressematerialien sowie Akten der Partei und Gewerkschaft (BGL) der Volksbühne. Der zeitliche Umfang des Archivs reicht von 1957, der Intendanz von Fritz Wisten, bis zum Vertragsende von Frank Castorf 2017. Die Ausnahme bilden einige frühere Materialien, die bis in die 30er Jahre zurückreichen. Hunderte von Videos und sogenannte „born digitals“ wie Flucht- und Rettungspläne oder Diskettenmaterial gehörten ebenfalls zur Überlieferung. Personalunterlagen wurden dem Landesarchiv Berlin übergeben, die Volksbühne hat schon in früheren Jahren ähnliche Unterlagen dorthin ausgelagert. 

Nach einer ersten Sichtung der Materialien war schnell klar, dass die Bearbeitung nicht in wenigen Wochen zu erledigen ist. Meine damalige Einschätzung von fünf Jahren Bearbeitungszeit erwies sich als realistisch, es vergingen knapp vier Jahre, und 10 000 Datensätze waren in die online-Datenbank eingearbeitet, und wir können, um zum Anfang zurückzukommen, mit gutem Gewissen sagen: Ja, man kann Theater bewahren! Ein anderes Theater, als es der Zuschauer auf der Bühne sieht, aber aus jeder Inszenierungsdokumentation – die Dramaturgen und Mitarbeiter der Volksbühne haben von der ersten bis zur letzten Inszenierung fast jede Premiere dokumentiert – mit ihren Proben- und Regienotaten, Szenenfotos, Programmheften, Rezensionen und Werbematerialien, den eingestrichenen Textbüchern und Bühnenbildunterlagen entsteht ein plastisches Bild, welches dieses Theater noch in 100 Jahren lesbar macht, auch wenn die Lesart vielleicht eine andere sein wird.  

Unser anfänglicher Plan, die Arbeit nach den einzelnen Intendanzen unter den Mitarbeitern der Archivabteilung aufzuteilen, funktionierte schon anhand der vorgefundenen Sortierung der Materialien nicht. So musste neu geplant werden, und es gelang uns, das Archiv wissenschaftlich zu bearbeiten und der Nutzung zugänglich zu machen. Die drei Jahre besetzte Projektstelle mit einer Facharchivarin in Person von Gwyn Pietsch hat in dieser Zeit fast Übermenschliches geleistet.  

Nach der Übernahme ging es aber zunächst an die Strukturierung des Archivs. Wir haben uns bewusst gegen eine Vorordnung des Materials in den 600 Umzugskisten entschieden, zu groß wäre der Zeitaufwand gewesen, von der körperlichen Arbeit beim Umpacken von einer solch großen Menge an Material ganz zu schweigen. Unsere Entscheidung war, zunächst die fast lückenlosen Inszenierungsdokumentationen zu separieren und zu verzeichnen. Unserer Erfahrung nach sind diese Dokumentationen begehrte Objekte für alle Nutzer, die den Weg in unseren Lesesaal finden. In dieser Phase der Bearbeitung waren vor allem körperliche Fitness und Geschick bei der Bedienung eines Palettenhubwagens gefragt. 

Durch die Übergabe der Videokassetten und Plakate an andere Archivabteilungen wie dem Medienarchiv und dem Plakatarchiv konnten einige Kisten Material und Tausende Plakate in kompetente Hände von Mitarbeitern übergeben werden, die diese Materialien fachgerecht fotografieren und katalogisieren.  

Die wenigen Bühnenmodelle aus der Castorf-Zeit von Herbert Fritsch und Anna Viehbrock wurden von mir gereinigt, aufgebaut, fotografiert und verpackt und danach der musealen Sammlung innerhalb unseres Archivs zugeordnet. 

Der nächste Schritt war die Bewertung und Verzeichnung der Materialien. Eine Bewertung, d.h. die Überprüfung auf endgültige Bewahrung der Unterlagen durch den Archivar, fand nur in dem Sinne statt, dass Redundanzen vor allem bei Werbematerialien und Presseerzeugnissen kassiert, d.h. vernichtet wurden. Alle anderen Archivalien wurden im Hinblick auf ihre Verzeichnungstiefe bewertet, die oft eine sehr detaillierte, erweiterte ist, genauso gut aber auch eine vereinfachte, Konvolute bildende Verzeichnung sein kann. Die Frage einer passenden Systematik stellte sich dabei recht schnell, und auch da fanden wir einen für uns praktikablen Weg.  

Nach Recherchen bei Mitarbeitern der Volksbühne und im Landesarchiv wurde schnell klar, dass nur die Abbildung der Organisationsstruktur des Hauses zu einem befriedigenden Ergebnis führen würde. Für die nichtkünstlerischen Materialien wurde eine Untergliederung nach den einzelnen Intendanzen geschaffen, dort wiederum unterteilt in Betreffe der Intendanz, der Künstlerischen Leitung, der Dramaturgie und der Technik. Teilweise bedingte die Materiallage eine sehr kleinteilige Klassifikation, für den Nutzer allerdings zu vernachlässigen, da eine Volltextrecherche in unserer online-Datenbank das Auffinden aller Suchergebnisse über die Klassifikationspunkte hinweg ermöglicht. 

Ein großes Problem stellte die Verschmutzung der Fotos, der Negative und der Kontaktabzüge dar. Diese befanden sich meistens in alten Aktenordnern stehend gelagert, und eine Einzelblattreinigung war oft unumgänglich. Auch das Verwaltungsschriftgut aus den 50er Jahren war stark verstaubt, und die oft in Durchschlag auf Maschine geschriebenen Seiten waren geknickt und eingerissen. 

Das Bundesministerium für Kultur hat für das Jahr 2019/20 in einem Sonderprogramm für die Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes in Deutschland Mittel zur Verfügung gestellt, die die Akademie der Künste in einer Höhe von 75.000 € abrufen und so mehrere Restauratoren für einige Wochen beschäftigen konnte. Insgesamt 48 Kartons Fotos, Negative und Kontakte sowie 22 Kartons Schriftgut wurden gereinigt, von Metallteilen befreit und archivgerecht verpackt.  

Alle sonstigen Materialien weurden in säurefreie Verpackungen umgelagert, Fotos und Negative in dafür geeignete Hüllen gelegt. Die Verzeichnung erfolgte in einer online-Datenbank, die komfortable Suchmöglichkeiten bietet. https://archiv.adk.de  

Ein Großteil von Namen und Institutionen wird mit der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek verknüpft. Plakate und dreidimensionale Objekte kann man als angehängtes Bild intern vorab betrachten.  

Das gesamte Volksbühnenarchiv ist verzeichnet, und die Materialien sind über eine online-Datenbank zu recherchieren, 86 laufende Meter Archivmaterial, das in unserem Lesesaal am Robert-Koch-Platz einzusehen ist. Audiovisuelle Materialien können dort in einem Spezialkabinett gesehen oder gehört werden. 

Und was ist denn nun drin, im Karton? Puzzleteile eben, Geschichten, die danach rufen, gefunden und erzählt zu werden. Handschriften, hinter denen Gesichter aus mehreren Jahrzehnten erscheinen, und großartige Theatererlebnisse aus fast 70 Jahren Volksbühnengeschichte. 

Natürlich ist auch die Website – Ursprung der Geschichte – inzwischen eingefroren und über die Akademiesite unter https://volksbühne.adk.de zu benutzen. 

1 Theater der Zeit, August 2018

2 Simon Strauss FAZ 18.6.2018

Erschienen am 8.5.2023

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