Zehn Thesen
These 10: Die Entgrenzung der Theatermusik führt zu einem Spiel mit musikalischen bzw. theatralen Dispositiven
von David Roesner
Erschienen in: Recherchen 151: Theatermusik – Analysen und Gespräche (11/2019)
Christopher Small (1998) und andere haben eindrucksvoll die Rituale untersucht, mit denen wir unterschiedlichen Kunstgattungen und Genres begegnen. Unser Theater-, Opern-, Konzert-, Ballett- oder Rockkonzertbesuch ist im Goffmann’schen Sinne ein jeweils anderer »Rahmen«149 und bringt ein komplexes Netz an Regeln, Verhaltensweisen, Kräfteverhältnissen, Erwartungshaltungen, Rezeptionsgewohnheiten und Bedeutungsmustern mit sich. Indem Theatermacher*innen in jüngerer Zeit immer häufiger mit diesen Rahmen experimentieren, sie zitieren und ineinander verschachteln, spielen sie mit unseren Verhaltensnormen und Erwartungen und bringen diese ins Wanken.
Theaterinszenierungen, die stark in den Bereich eines Konzerts gehen – wie z. B. die Liederabende von Franz Wittenbrink oder Erik Gedeon, die staged concerts von Nico and the Navigators, Sasha Waltz und Heiner Goebbels oder einige der Kreationen Christoph Marthalers oder Thom Luz’ –, vermischen konzerthafte Momente mit Theater und Tanz und adressieren dabei verschiedene Zielgruppen, Rezeptionshaltungen und Wahrnehmungsrituale. Wann hat man im Theater zuletzt rhythmisch mit den Fußspitzen gewippt? Wann hat man die Augen geschlossen und nur zugehört? Wann hat man Licht als musikalisches Element erlebt? Das Verschwimmen musikalischer Formate und Dispositive150 verändert hier grundlegend unsere ästhetische Erfahrung der Inszenierung. Eine Einordnung fällt schwer: Ist das Theatermusik? Musiktheater? Tanztheater? Oder bekommen wir unser Bedürfnis nach einer Schublade lediglich vorgeführt, ohne dass...