Auftritt
Schwerin: Der Tanz der Giraffe
Mecklenburgisches Staatstheater: „MÜLLER : Eine Chronik in sechs Jahrzehnten“ von Sascha Hawemann. Regie Sascha Hawemann, Bühne Wolf Gutjahr, Kostüme Hildegard Altmeyer
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

So kann eine Heiner-Müller-Textcollage auch gehen: die Texte benutzen, um die Biografie dahinter freizulegen. Auch wenn dafür einiges verbogen werden muss. Die Grundidee von Sascha Hawemanns „Chronik“ ist schon sehr stimmig, nur eine Chronik ist dabei nicht herausgekommen, sondern ein mehr oder weniger vergnügliches Potpourri aus Müllers Leben und Schreiben.
Acht Schauspieler:innen stürzen durch die Texte und immer wieder durch reale Personen, die für die Entstehung von Müller-Texten wichtig waren. Am anschaulichsten und eindrücklichsten geschieht das mit dem fünften Teil der „Wolokolamsker Chaussee“, dem Konflikt zwischen einem Funktionärsvater und seinem Sohn, der vorgeblich einer Kleist-Erzählung folgt, aber im Wesentlichen den Kampf von Thomas Brasch mit seinem Vater und der dabei sterbenden Mutter erzählt. Hier ist nun nicht nur ein Thomas auf der Bühne, sondern auch seine Freundin Bettina Wegner – und der ganze Part hält einen Ton, der einen heute noch schaudern lässt. Da ist nichts VERGESSEN, wie der Refrain des Kurzstücks lautet.
Andere Szenen haben eher den Anstrich von Parodie und Posse, etwa wenn eine Wolf-Biermann-Figur mit Schnauzbart und Klagehaltung auf der Gitarre klimpert und eitel aufzählt, über welche wichtigen Themen schon Lieder entstanden sind, die jetzt alle „mal kurz angespielt“ werden können. Das ist Spott und Spaß – und ja auch nicht aus der Feder des großen Meisters. Dessen Texte werden oft überraschend gewendet. Respektlosigkeit ist dabei die Grundregel von Sascha Hawemann, der mit 19 nicht in den Westen, sondern nach Belgrad floh. Die Zeile „oder der jugoslawische Traum“ aus der „Landschaft mit Argonauten“ ist eigentlich der einzige Verweis auf Jugoslawien im gesamten Werk Müllers, hier kommt sie wie ein Leitmotiv ins Spiel.
„Der Mann im Fahrstuhl“ steigt nicht auf einer Dorfstraße in Peru aus, sondern in Bulgarien – was im Prinzip biografisch eine stimmige Verschiebung ist. Die „Bildbeschreibung“ wird in den Geschlechterkampf von „Quartett“ verschoben, was sogar noch stimmiger ist. Anderes kommt aber sehr insiderisch und auch banal daher, wenn zum Beispiel über Corinna (Harfouch) gesprochen wird, die als Lady Macbeth in Heiner Müllers Inszenierung 1982 an der Berliner Volksbühne Zigaretten geraucht hat. Kommen da alle mit in Schwerin?
Andererseits tritt der Abend gar nicht mit dem Anspruch auf, ein Geheimnis zu lüften oder etwas groß Geschichtsphilosophisches zu verkünden. Er will einfach mit Müller jonglieren und unterhalten, Nichtkenner dabei für ihn interessieren und Kenner mit der ungewöhnlichen Behandlung der Texte und ihrer Zusammenstellung überraschen. Im zweiten Teil schiebt sich – die Bühne besteht hauptsächlich aus Wänden, vollgekritzelt wie Müllers Manuskripte – eine riesige Giraffe in den Hintergrund: Sie kommt aus dem Berliner Tierpark im Lichtenberger Ortsteil Friedrichsfelde, wo Müllers letzte Wohnadresse lag, und wird dann zum bulgarischen Rhythmus der musizierenden Schauspieler, die sich zum Schluss in die Vertonung von „Ajax zum Beispiel“ als Band eingrooven, hin und her geschoben. Macht Laune, mehr ist es aber auch nicht. //