Landvermessung: der Norden
Drache mit Feueratem
Hans Henny Jahnns „Trümmer des Gewissens“ enthüllt in Wilhelmshaven den tödlichen Filz von Wissenschaft und Politik
Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Landesbühne Niedersachsen Nord
Beton. Überall Beton. Meterdick. Wer einmal durch Wilhelmshaven gefahren ist, vorbei an den klotzigen Bunkern aus dem Zweiten Weltkrieg, spürt die Beklemmung, die von dieser Bühne hier ausgeht: ein kaltes Gefühl der Bedrohung. Etwas lauert dort draußen und schlägt vielleicht jederzeit zu. Unsichtbar? Formlos? Nein, so alltäglich wie die Bunkerinsassen selbst: der Mensch, Maschinenbauer und Erfinder der Vernichtungsmaschinerie.
Hans Henny Jahnns Endzeitdrama „Trümmer des Gewissens“, geschrieben 1959, ist auch heute noch ein gespenstisches Stück. Vier Jahre, nachdem im russischen Obninsk das erste zivile Kernkraftwerk in Betrieb gegangen war, sah der Hamburger Schriftsteller fast prophetisch die Janusköpfigkeit des Atomzeitalters heraufziehen: eine Bedrohung, die, wie er betont, durch den „Erfolg des Geistes“ entstand. Durch Wissenschaft. Fortschritt. Der sich im Zweifelsfall eben auch gegen den Fortschreitenden selbst wendet. Denn was passiert, wenn die „Maschine“ kollabiert? Oder eben, wie geschehen, der Mensch, der sie kontrolliert? Wo hört Wissenschaft auf und fängt Kriegsgeheul an? Hans Henny Jahnn war da in der Hochphase des Kalten Krieges, drei Jahre vor der Kubakrise, ganz Pessimist. Grenzen gibt es nicht. Nur das Spiel der Mächte, von der Wissenschaft flankiert. Die Machtmittel des einzelnen Menschen, zitiert das Programmheft seine „Aufzeichnungen eines Einzelgängers“, seien angewachsen. Er sei nicht nur schnell im Anmarsch, nicht nur vielerorts gleichzeitig, er sei auch konzentrisch mit seinem Vernichtungsgerät geworden. „Er ist ein Riesentier, ein ungeheurer Drache mit Feueratem.“
Das ist ein sperriger Stoff für eine Stadt wie Wilhelmshaven, die, nach 1945 nahezu ausgebombt, der Krieg nie richtig verlassen hat. Noch immer betreibt die Bundeswehr hier ihren größten Marinestützpunkt, noch immer starten Kriegsschiffe in die Krisengebiete dieser Welt. Doch die Landesbühne Niedersachsen Nord ist da unter ihrem Intendanten Gerhard Hess wenig zimperlich. Neben schrägbunten Musicals wie „Meta Norddeich“, „eine tiefe Verneigung vor Meta Rogall und ihrem Musikclub ,Haus Waterkant‘, vom dem aus“, wie es im Programm heißt, „in den 60er und 70er Jahren der Duft von Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll durch Ostfriesland wehte“, spielt man hier Franz Xaver Kroetz, Václav Havel und Peter Weiss. Kein Schmusetheater also. Kein Schunkelschmaus. Sondern Stücke, die verstören, aufrütteln. Das ist beachtlich für eine Bühne, die von Wilhelmshaven aus über Jever bis Norderney das ganze, also auch ländliche Umland bespielt. „Doch ausgewählt wird nicht“, sagt Oberspielleiter Olaf Strieb entschieden. „Jedes Stück geht auf Tour.“
Aber kommen die „Trümmer“ nicht ein bisschen spät, jetzt wo zumindest der Atomausstieg beschlossene Sache ist? Tja, nur für die, die daran glauben. Und eben darum geht es Jahnn: um den Glauben, die Gutgläubigkeit, die Verblendung. Jakob Chervat (Thomas Marx) ist Physiker, Erfinder der Atomwaffenformel und Gefangener seiner eigenen Zunft. Statt in ein Haus mit vergoldetem Stuck und seidenen Tapeten, wie es Chervats Frau Jeanne (Julia Blechinger) sarkastisch beschreibt, hat ihn Strieb in einen Bunker gesperrt. „Unsere Schutzmaßnahmen“, sagt Chervat, „grenzen an das Vollkommene.“ Und doch ist Elia, Chervats Sohn (Benno Schulz), bereits ganz kahl. Ja, Schutzbeton kann eben auch Lärmschutz sein, nicht hören können, was draußen geschieht. Jeanne: „Du hast die geheimnisvollen Fabriken (…) einmal ‚Verliese der Gewalt an sich‘ genannt (…) Wir haben das Ungeheuer nicht erkannt. Nicht in uns und nicht in den anderen.“
Die anderen? Das sind in diesem Fall die Auftraggeber. Die Säbelrassler und Kernschmelzvertuscher. „Unsere Nation stirbt nicht mit achttausend Toten“, sagt Regierungsvertreter Sarkis (Johannes Simons) lapidar. „Wir sind jetzt in einer Phase der Waffenüberlegenheit (…) Zaudern wäre Hochverrat.“ Forschung auf Kosten des Menschen, der Filz von Wissenschaft und Politik – Jahnns Diagnose ist vernichtend: Der Staat? „Eine im Ethischen nicht sehr zuverlässige Einrichtung.“ Doch steht am Ende immer auch der Appell an uns selbst: „Wir befreien uns nicht wieder von den Geräten, die wir uns erfunden haben“, schreibt er. „Aber wir sollten sie endlich als unsere Glieder betrachten, für die wir verantwortlich sind. Wenn unsere Glieder morden, sind wir Mörder.“ //