Theater der Zeit

Auftritt

Münchner Kammerspiele: Der Gott lacht über die sterbenden Demokratien

„proteus 2481“ nach Aischylos und Thomas Köck (UA) – Regie Thomas Köck, Bühne Barbara Ehnes, Kostüme Martin Miotk

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Dossier: Inklusion Thomas Köck Münchner Kammerspiele

Chor der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten „Blindgänger“ sowie der Schauspieler Samuel Koch als illustre Runde aus Satyrn und Verwandlungskünstler Proteus. Foto Maurice Korbel
Chor der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten „Blindgänger“ sowie der Schauspieler Samuel Koch als illustre Runde aus Satyrn und Verwandlungskünstler Proteus. Foto: Maurice Korbel

Anzeige

In der Rolle des Dichters Jean Racine sinniert Samuel Koch über die Dramen der Menschheit. In Thomas Köcks „proteus 2481“ hat Frankreichs wohl größter Tragödienautor des 17. Jahrhunderts nicht mehr viel zu melden. Denn in dem Abgesang auf die Konventionen haben die Satyrn die Macht übernommen. Mit der Sprachlosigkeit des Dichters im Chaos spielt Koch virtuos. Der Schauspieler, der nach einem Bühnenunfall querschnittsgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt, führt das Publikum virtuos durch die wilde Produktion mit einem inklusiven Ensemble. Ein Ansatz, der pralle Theaterkunst in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele München verspricht.

Das Proteus-Fragment, so behauptet es die Legende, habe der Dramatiker und Regisseur Köck in einer mexikanischen Bodega aufgespürt und das spanisch-lateinische Manuskript des Dichters Aischylos in die deutsche Sprache übersetzt. Das Drama um den Meeresgott und Verwandlungskünstler Proteus setzt den Schlusspunkt unter die Orestie. Köck liebt das Spiel mit Motiven der Antike. In den Texten findet der österreichische Dramatiker Antworten auf die drängenden Fragen seiner Gegenwart.

Das ist auch der rote Faden seines „Proteus“, der im Jahr 2481 endet. Für entscheidende Impulse und viel Leben auf der Bühne sorgen die Satyrn. Das sind Mischwesen aus der Antike, die singen, tanzen und Flöte spielen. In Köcks Inszenierung verkörpern sie die Spieler:innen des Chors der Südbayerischen Wohn- und Werkstätten, die sich selbstironisch Blindgänger nennen. Leicht und unbeschwert blicken sie auf eine Welt, die aus den Fugen gerät. Wild und farbenfroh sind die Kostüme, die Martin Miotk für sie geschaffen hat. Sie peitschen die Handlung voran. Im Bühnenraum von Barbara Ehnes, der sich durch eine kluge Komposition der Spielebenen in eine Märchenwelt verwandelt, bringen sie die Musikalität von Köcks Sprache zum Klingen.

Seine Botschaft ist auch im Proteus-Spektakel zunächst dunkel. Eine Zukunft gibt es in seinen Textwüsten nicht mehr. „Das Klima hat aufgehört zu existieren / Es gibt nur noch Sterne die sich um sich selbst drehen/der Mensch ist auserzählt.“ Doch der Spaß, mit dem der Dramatiker durch die Geschichte surft, macht die Inszenierung dennoch heiter. Köcks spielerischer Humor macht vor dem Weltuntergang nicht Halt.

Von der Antike führt die Zeitreise zu den fränkischen Mönchen Menelaos und Helena, die Bernardo Gamboa und Micaela Gramajo vom mexikanischen Theaterkollektiv Teatro Bola de Carne verkörpern. Die zwei sind auf der Insel gestrandet, die Proteus mit seinen Satyrn bewohnt. Lustvoll spielen die beiden mit den Konventionen der lateinamerikanischen Theaterkultur. Als die europäischen Eroberer auf den Kontinent kamen, missionierten sie die Menschen auch mit Theaterstücken. „Auto Sacramentales“ nannte man die Stücke, die traditionell zu Fronleichnam gespielt wurden. Dieses Format denkt der Sprachkünstler Köck in seine Zeit hinein. Lustvoll jongliert mit Anspielungen und Wortbildern.

Dieser barocken Opulenz stemmt der Schauspieler Samuel Koch den rationalen Blick auf die Welt und ihre Selbstzerstörung entgegen. Die Flucht des Meeresgottes in die Verwandlung bringt er klug auf den Punkt. „Proteus hatte überhaupt keine lust auf irgendwelche geschichten von barockem kolonialtheater und verwandelte sich stattdessen unentwegt in dieses und jenes in diese zeit und jene zeit.“ Großartig erfasst Koch die Kraft des Protagonisten. Denn in der Verwandlung liegt für ihn die Chance, neu und unverstellt auf die Zeit zu schauen. Die Schauspieler Johanna Eiworth und Bernardo Arias Portas füllen die Radfiguren mit Leben. Auf dem schmalen Grat zwischen Lachen und Schrecken verkünden sie drohendes Unheil. Aber niemand hört zu.

Die Theaterbilder des Dramatikers Thomas Köck sind so sinnlich und überladen, dass der 75-minütige Abend vom ersten bis zum letzten Augenblick fesselt. Obwohl es manchmal schwer fällt, den historischen Bezügen zu folgen, entgleitet der dramaturgische Zeitraffer nie. Die Satyrn, die im Theter heute allenfalls noch als Randfiguren wahrgenommen werden, entfalten in seiner Inszenierung eine wunderbare Kraft. Ihr Humor haucht den sterbenden Demokratien Europas, deren Todeskampf in Köcks politischem Theater immer wieder aufblitzt, neues Leben ein. So öffnet das Lachen den Weg zurück zur Vernunft.

Erschienen am 19.12.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York