Schauspiel Leipzig: Ganz großes Kino
„Richard III“ von William Shakespeare in der Übersetzung von Thomas Brasch und einer Fassung von Marion Tiedtke – Regie Enrico Lübbe, Bühne Martin Zehetgruber, Kostüme Sabine Blickenstorfer, Video Robi Voigt, Musik Bert Wrede
von Thomas Irmer
Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Martin Zehetgruber Marion Tiedtke Thomas Brasch Schauspiel Leipzig
Shakespeares Darstellung des buckligen Schurken ist längst widerlegt. Vor einiger Zeit wurde das Skelett von Richard III. auf einem Parkplatz in Leicester entdeckt mit dem Befund, beim berühmtesten Deformierten der Dramengeschichte sei lediglich eine leicht schiefe Schulter wegen einer Skoliose erwiesen. Das Theater hat natürlich andere Gründe, einen mit feinen Intrigen sich auf den Thron mordenden Bösewicht nicht in der tradierten körperlichen Normabweichung darstellen zu lassen. Verfremdung des allzu Bekannten und neue psychologische Zugänge vielleicht.
Die Besetzung von Anne Cathrin Buhtz als Richard in Enrico Lübbes Interpretation des Königsdramas spielt mit dem Risiko der rein äußerlichen Umdeutung, das am Ende aber überzeugend aufgeht. Die hochgewachsen schlanke Schauspielerin mit Kurzhaarschnitt irritiert zunächst in dieser im Hinblick auf die Aufführungstradition offenbar forcierten Entmonsterung der Figur in einem Männerunterhemd. In der großen Szene mit der am Sarg trauernden Witwe Lady Anne (Vanessa Czapla) bringt Buhtz die androgynen Züge ihrer Figur erstmals zum Leuchten. Diese werden im Verlauf der Inszenierung immer deutlicher und dabei darstellerisch schillernder hervortreten – ein echter Coup.
Damit ist auch für die Entwicklung des Politischen der Story einiges gewonnen. Es geht hier nicht so sehr darum, wie von Mord zu Mord der Aufstieg Richards gelingt, das freilich auch, sondern eher um das elegant Gewinnende einer mit Brutalität und Raffinesse an die Macht strebenden Figur. Ein Höhepunkt ist, wenn diese Richard-Spielerin sich kommentiert: „Oft handeln Männer ohne tieferen Sinn.“ Liebeswerben, öffentlich inszenierter Kirchgang, taktisches Bündniswort und dann Mordauftrag, das wird alles als Schurken-Richard in der Dramaturgie des manchmal kleinteiligen Szenen-Klippklapps mit einem exzellent geführten Ensemble einigermaßen spannend erzählt.
Martin Zehetgrubers vollständig bebaute Drehbühne zeigt ein düsteres Burgambiente mit Elementen einer Industrieruine, in die ein mächtiger Kronleuchter hineingestürzt ist. Eine stählerne Brücke für den Kirchgang, gefängnisartige Gitterstreben für die post-industrial Räume darunter blenden Zeiten ineinander. Sehr viel anspielungsreicher und rätselhafter sind die Kostüme Sabine Blickenstorfers. In denen zum Beispiel Buckingham, lange Zeit Richards wichtigster Verbündeter, in Gestalt von Christoph Müller wie einer aussieht, den sich das alte Theater mit Fellkragenumhang und Pagenschnitt für die Shakespeare-Zeit vorstellte. Michael Pempelforth dagegen tritt als Stanley mit Perücke und englischem Anzug wie eine Figur aus den James-Bond-Filmen der 1960er Jahre auf, und einmal wird die Richard-Welt sogar von den subversiven Kunstspaßmachern Gilbert & George besucht, als ob alles auch ein bisschen Komödie britischen Humors wäre. Bloß nicht eindimensional aktualisierend, und bitte immer die vielen Brüche sehen, so die Einladung der Regie, die auf direkte Fingerzeige in die Gegenwart verzichtet.
Exzellente Brüche hat auch die hier von Marion Tiedtke verwendete Übersetzung Thomas Braschs, in deren Klarheit mit jeder dritten Zeile eine freche Pointe lauert und die mit ihren schnellen Wechseln zwischen Vulgärem und Poetischem für dieses Stück als die bis heute beste gilt. Nach der Pause in dem Dreistünder kommt diese harte Sprache in den Monologen des vor den Opfern und seinem Tod in der bevorstehenden Schlacht an sich selbst verzweifelnden Richard in der nun ganz und gar faszinierenden Darstellung von Buhtz zur größten Geltung zusammen mit dem an Philip Glass’ „Koyaanisqatsi“ erinnernden Untergangsorgelmotiv von Bert Wrede in einer Welt von Leichensäcken. Ein mit allen Künsten gelingendes großes Finale für diese Neudeutung von Shakespeares oft nur allzu einfach gesehenen Schurken-Stück.
Erschienen am 25.9.2024