Theater der Zeit

Bericht

Von der Zärtlichkeit vergessener Puppen

Das internationale Festival Theater der Dinge an der Schaubude Berlin

Hinterlassene, verschwundene, (wieder)gefundene Objekte standen als Erinnerungsträger im Mittelpunkt der Ausgabe, gaben Einblicke in vergessene Biografien und die Konstruktionsmechanismen geschichtlicher Narrative. Katja Kollmann nimmt die double-Leser*innen mit auf einen Streifzug durch verschiedene Vergangenheiten und das vielfältige Festivalprogramm.

von Katja Kollmann

Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)

Assoziationen: Berlin Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Schaubude Berlin

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Tschaikowskis „Valse sentimentale“ bringt Melancholie in den Keller der Berliner Schaubude. Ein graziles weißes Reh mit Brautschleier dreht sich einsam auf dem Schallplattenteller. Das dynamische Schattenbild aber schafft die Illusion eines Paares, das sich tanzend im Kreis dreht – in Esther Nicklas‘ Installation „Hochzeitstanz – Only for you“. Im Foyer der Schaubude entsteht eine Liaison mumifizierter Schmetterlinge und winziger, hundertjähriger Puppenköpfe aus Biskuitporzellan. Florian Feisel sitzt weit oben auf einem Stuhl an der Wand inmitten von 2756 Puppenteilen und hält seine Lecture Performance. Er denkt poetisch über die unberührten, jahrzehntelang vergrabenen Porzellanfragmente nach, schaut zur gegenüberliegenden Wand, die voll von toten Schmetterlingen in Glaskästen ist und ruft zur Vereinigung beider auf. Die Zuschauer*innen geben so den Insekten Köpfchen mit feingeschwungenen Lippen sowie zarten Augen und erschaffen auf diese Weise die titelgebenden „SchmetterDinge“. 

Im 25. Jahr der Schaubude gibt sich Theater der Dinge, das vom 9. bis 15. November 2018 insgesamt 16 Produktionen aus 13 Ländern zeigt, das Motto „Von der verlorenen Zeit“. „Vies de papier - Papierleben“ von La Bande Passante aus Frankreich geht den Spuren nach, die ein auf dem Flohmarkt gefundenes Fotoalbum streut. Es ist eine Annäherung an Christa-Maria Charitius, geboren 1933 in Frankfurt/Oder, verstorben 2011 in Brüssel. Schwarz-Weiß-Fotos sind hier der Kompass einer Reise, die u.a. nach Regensburg, Berlin und Zinnowitz führt und deren Dokumentation auf der Bühne gezeigt wird. Mit Empathie nähern sich Benoît Faivre und Tommy Laszlo einem Leben an, das parallel zur Machtübernahme der Nazis begann. Die Spurensuche wird oft von unfreiwilliger Situationskomik flankiert, die wiederum sehr aufschlussreich ist. So orientieren sich Faivre und Laszlo in Regensburg an einer auf der Rückseite der Fotografie aufgemalten Wegbeschreibung, um das Haus in der Hindenburgstraße zu finden, vor dem Christa als kleines Mädchen Radfahren übte. Niemand kennt die Hindenburgstraße, obwohl das Haus, in dem Christa mit ihren Eltern wohnte, als der Vater bei Messerschmidt beschäftigt war, noch existiert. Regensburg hat sich inzwischen der Hindenburgstraße entledigt. Eine Messerschmidt-Straße, die an den Flugzeugbauer erinnert, der im 2. Weltkrieg große Werkstätten in der Stadt hatte, gibt es aber bis heute. Am Ende ihrer Recherche sitzen Faivre und Laszlo in Brüssel einem alten freundlichen Herrn gegenüber, der Christa-Maria Charitius als alte Dame kannte. Sie war mit einem adeligen Belgier verheiratet und zu ihrer Beerdigung kamen fünf Leute.

Ludomir Franczak aus Polen findet Spuren, die Janina Wegrzynowska, eine Gebrauchsgrafikerin und Künstlerin der Nachkriegszeit, hinterlassen hat. Er stößt auf Bilder, die im realsozialistischen Polen einem psychedelischen Kubismus frönen, liest Briefe und Tagebücher, die aber nur den Alltag dokumentieren und bleibt so mit einer Leerstelle zurück. Marjan Poorgholamhossein vom Pouppe Theater aus dem Iran erinnert sich an die Gasse ihrer Kindheit, die sie erst 30 Jahre nach der erzwungenen Emigration wiedersah. In einer Ecke der Bühne ist diese Gasse in Miniaturform aufgebaut. Das Zusammenspiel von Erzählung und gefilmtem Tableau Vivant erzeugt eine mit Melancholie durchwobene Unmittelbarkeit.

„El Solar“, die Agentur der Objektdetektive aus Spanien, macht sich 29 Jahre nach dem Fall der Mauer auf die Suche nach Gegenständen „Made in GDR“. Xavier Bobés, Shaday Larios, Jomi Oligor und ihre deutsche Kollegin Anya Deubel finden im heutigen Berlin Antiquitätenläden, in denen sich Kahla-Geschirr stapelt und das eingestanzte VEB-Zeichen jedes Objekt als Überbleibsel eines nicht mehr existierenden Staates markiert. Dort haben sie für „Tagebuch zwischen den Zeilen“ eine stehende Blumenampel, Spielkarten, Einkaufsbeutel und vieles mehr ausgeliehen und im Hinterzimmer des Friedrichshainer Weinsalons aufgebaut. Die Miniatureisenbahn fährt an einer Plaste-Schreibtischlampe vorbei, dazu dreht sich auf dem Plattenteller die Kaffeekanne aus dem Palast der Republik. Eine Zuschauerin schält aus einem Karton einen armgroßen Nussknacker. Monika Schneider hat ihn Anfang der 80er Jahre, kurz vor ihrer geplanten Flucht aus der DDR, von Ost- nach West-Berlin geschickt. Sie wollte ihn im neuen Leben nicht missen. Wiedergesehen hat sie ihn erst nach ihrer Haftzeit im Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen und im DDR-Frauengefängnis Hoheneck. „Ein Idiot baut eine Mauer, der andere macht sie wieder auf und dazwischen liegt mein Leben“, zieht eine andere Zeitzeugin Bilanz.

KH 1972, der Klapphocker aus der DDR-Konsumgüterproduktion im VEB Schaltanlagenwerk Karl-Marx-Stadt, muss sich im Nachwende-Deutschland bei einem Casting neu bewähren. In „Aufstand der Dinge“ vom Figurentheater Chemnitz präsentiert er sein Kunstlederpolster und wandelt sich dann elegant zu einer Trittleiter. Nebenbei erzählt er von der Abwicklung des Werkes durch die Treuhand. Dem Regisseur Mirko Winkel und dem Dramaturgen René Schmidt gelingt es mit einer sehr klugen Dramaturgie, einer punktgenauen Vereinfachung von Sachverhalten und einer schönen Dosis Humor jungen Menschen ab acht das Leben in der DDR nahe zu bringen. Etwas ältere Semester mit einem Vorleben im Europa des Kalten Krieges erleben hier, dass ein spielerischer und zugleich ernsthafter Umgang mit der jüngsten Vergangenheit möglich ist. So hält sich Claudia Acker einen Tauchsieder über den Kopf, sagt dazu Russentod und schon erscheint auf der Bühnenwand Joan Collins‘ lebendiges Abbild. Entlarvend ist die neo-realsozialistische Synchron-Tonspur zur US-Serie „Der Denver-Clan“.

Esther Niklas entlässt die Besucher*innen nach dem Hochzeitstanz mit einer Fotografie: Das Auge des weißen Rehs ist jetzt blutunterlaufen. Die letzte Spur einer verlorenen Zeit. – www.schaubude.berlin

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