Auftritt
Vitte/Hiddensee: Aus der Hölle gesehen
Seebühne Hiddensee: „Don Juan oder Der steinerne Gast“. Regie Antje König, Figuren und Bühne Christian Werdin
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Theaterkritiken

Die Vorlage für diesen „Don Juan“ dürfte weithin unbekannt sein. Ein altes deutsches Puppenspiel, das die Geschichte vom Frauenhelden und dessen Höllenfahrt etwas anders erzählt als bei Moliére und Mozart, diente Regisseurin Antje König und dem Puppenspieler Karl Huck als Ausgangspunkt für ihre ganz eigene Version.
Der Oberteufel Diavolo und sein schrulliger Sekretär erhalten von Gott den Auftrag, den spanischen Wüstling in die Hölle zu holen. Mit diesem Perspektivwechsel entgeht die Produktion der Seebühne der Gefahr einer bloßen Nacherzählung des Bekannten. Mehr noch: Verfolgt wird eigentlich das Schicksal des Dieners Leporello, der hier der gute alte Kaspar ist, der gerade mit seiner Gretel zusammenkommen möchte. Eine Art interkulturelle Überschreibung mit der perfekten Drehung des Stoffs ins Puppentheater – und Gelegenheit, den Spaß und vor allem die Kunst von Marionettenpuppen herauszuspielen.
Christian Werdin, einst Mitgründer der legendären Zinnober-Truppe im Prenzlauer Berg der späten DDR-Jahre und heute für das Theater Altenburg-Gera sowie für das nahe gelegene Theater Vorpommern in Stralsund und Greifswald tätig, hat dafür eine beeindruckende Drehbühne gebaut, mit der sich zwischen einer gemütlich vollgerümpelten Hölle und einer Arena im sonnengleißenden Sevilla wechseln lässt. Dazu Marionettenpuppen von geradezu lebendiger Anmutung, wenn sie von Karl Huck als Spielmeister Diavolo und zugleich Stimme aller anderen geführt werden. Insbesondere der Kaspar erhält so mit seinem ganz in der Tradition stehenden Lächelgesicht einen besonderen Ausdruck von Witz und Widerspruch. Der nackte Teufelssekretär mit frei liegendem Gemächt ist im Don-Juan-Kontext dazu nicht ohne tiefere Bedeutung. Unsichtbar dagegen ist Gott, der durch die Stimme Thomas Thiemes als etwas gestresste Autorität am Telefon der Hölle zu hören ist. Natürlich hat man ihn mal wieder nicht richtig verstanden – die Teufel konzentrieren sich bei ihrer Arbeit auf den Falschen, den verliebten Kaspar in Nöten. Zudem reiten in Sevilla zwei seltsame Polizisten immer wieder durch die Szene – ihr Pferd ist ein Meisterwerk der Marionettenmechanik mit seiner verblüffenden Beinbewegung, die mit ihrer Durchquerung des Sevilla-Schauplatzes das Phänomen dieser im Puppentheater wohl einzigartigen Drehbühne noch einmal betonen.
Karl Huck ist als Erzähler und Puppenspieler wie ein Schausteller-Impresario alten Stils kostümiert (von Katharina Schimmel) und bringt durch seinen angeklebten Moustache ab und zu eine aktuelle Anspielung ins Publikum. Auch in der Hölle wird die Wohlfühltemperatur für den nackten Teufel demnächst abgesenkt werden müssen. Seit 25 Jahren ist der an der Berliner Ernst-Busch-Schule ausgebildete Puppenspieler der Hauptakteur der Seebühne und leitet das maritime Kammertheater zusammen mit Wiebke Volksdorf. Der beengte Fischerschuppen am Hafen von Vitte, in dem sie sich einst auf der Insel als Theater etablierten, dient jetzt vor allem Lesungen und DEFA-Kino. Theater gespielt wird ausschließlich auf der geräumigeren Bühne des vor einigen Jahren neu errichteten Gebäudes der Homunkulus-Figurensammlung, wo etliche Helden und Ausstattungen früherer Inszenierungen zu besichtigen sind – als ob sie gleich wieder auf die Bühne springen wollten. Diese wurde für „Don Juan“ in den Proportionen auch im Verhältnis zum Publikum, das ja gerade solche hintergründig detailfreudigen Inszenierungen aus der Nähe erleben soll, ganz fein genutzt. Nicht zuletzt ist hier auch eine Version des über Jahrhunderte immer wieder bearbeiteten Stoffes entstanden, mit der sich sogar die Literaturwissenschaft noch einmal ernsthaft beschäftigen könnte. Kaspar sei Dank. //