IV Bertolt Brecht/Kurt Weill
Die Oper als Herausforderung des epischen Theaters
von Günther Heeg
Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)
Assoziationen: Musiktheater Dossier: Bertolt Brecht Kurt Weill Bertolt Brecht

Es hat sich herumgesprochen, dass Brechts Revolution des Theaters viel der Musik und vor allem der Oper verdankt.2 Das bezeugt bereits auf biographischer Ebene die lebenslange Zusammenarbeit Brechts mit Komponisten wie Paul Hindemith, Kurt Weill, Hanns Eisler und Paul Dessau sowie die Opern Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Dreigroschenoper, Die Verurteilung des Lukullus und weitere Opernprojekte. Und dennoch zögert man, die Oper vorschnell zum Modell oder zur Blaupause für das epische Theater zu erklären. Zum einen, weil Brechts Beziehung zur Oper sich durchgehend durch Ambivalenz auszeichnet, mehr noch: weil in seinen expliziten Äußerungen zur Oper die Kritik überwiegt. Zum andern, weil damit die Gefahr droht, den Paragone, den Wettstreit der Künste, der für Brecht Stimulans und Herausforderung seiner Arbeit war, vorschnell zu Gunsten einer Kunstgattung, der Oper, zu entscheiden. Damit aber wäre die spezifische Qualität der Beziehung zwischen den Künsten, die Brechts Arbeiten auszeichnet, gerade verfehlt. Diese Beziehung aber ist noch weitgehend unerforscht.
1. Das Gespenst der Oper oder Das Genießen des Fremden
Dass die Oper eine Herausforderung des epischen Theaters, also des Theaters des 20. Jahrhunderts darstellen könnte, glaubt man nicht, wenn man die vernichtenden Äußerungen Brechts über die Oper liest. Noch kurz vor der Aufführung von Mahagonny, bekanntermaßen einer Oper, hat Brecht das Bedürfnis, sich über die Gründe klar zu werden, die ihn zu dieser Arbeit bewogen haben. Im Notizbuch 25 findet sich dazu unter der Überschrift »Oper mahagonny« [sic!], breit unterstrichen, ein Halbsatz:
nicht um die oper umzuändern als kunstgattung, nicht einmal um dagegen »einen schlag zu führen« – sie ist allzusehr der ausdruck einer klasse und die vernünftigkeit hat zu wenig raum in ihr als daß man etwa von ihr aus einen schlag gegen die schicht selber die hier genießt, führen könnte.3
Wissen wir damit mehr über den Grund, die Gründe von Mahagonny? Ja und nein: Nein, wir erfahren nichts darüber, warum Brecht, zusammen mit Kurt Weill, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny verfasst. Allenfalls indirekt. Denn Brecht argumentiert gleichsam ex negativo. Was für die Arbeit an Mahagonny spricht, wäre – wie in einer Spiegelschrift – dem zu entnehmen, was dagegenspricht, sich auf die Oper überhaupt zu beziehen: Weder ein Schlag gegen die überkommene Oper sei mit Mahagonny intendiert noch eine Reform der Oper, wie sie in den Zeitopern der zwanziger Jahre versucht wird. Die Oper, entnehmen wir der kleinen Notiz, ist unter aller Kritik, sozusagen nicht satisfaktionsfähig, keinen Schlag wert. Warum das so ist, darüber geben drei Formulierungen Auskunft, die man zu drei knappen Thesen verdichten kann: 1. Die Oper ist »allzusehr der ausdruck einer klasse«, gemeint ist die bürgerliche. 2. Sie ist zu unvernünftig, als dass sie vernünftiger Kritik zugänglich wäre und 3. Ihre wesentliche Aufgabe ist das Genießen eben dieser Klasse.
Hört man den Dreiklang der Thesen, ist man versucht, gleich in den Trott routinierter Brecht-Exegese zu verfallen: Klar, dem Aufklärer Brecht ist die Oper schlicht zu irrational. Aber der schnellen Auflösung stellt sich das »Genießen« in der dritten These entgegen. »Genießen« nämlich ist bei dem Materialisten Brecht nicht nur Ausdruck bürgerlicher Dekadenz, sondern es ist darin die Aktivität des Asozialen am Werk, die eine künftige Gesellschaft erst möglich macht.
Seid nur nicht so faul und so verweicht
Denn genießen ist bei Gott nicht leicht!
Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch:
Und mitunter stört ein dicker Bauch4
– so heißt es im Choral vom großen Baal. Wir wissen, die Produktivkraft des Genießens ist nicht nur in Baal, sondern auch in späteren Figuren Brechts wie Fatzer oder Galilei am Werk. Das unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Genießens für Brecht.
Und damit zurück zu Brechts Verdikt der Oper. Warum, so fragt man sich, ist dann das Genießen in der Oper im Zusammenhang der drei Thesen negativ besetzt? Und was macht den Unterschied dieses Genießens zu jenem anderen Genießen aus, das Brecht für unverzichtbar hält? Und, von dieser doppelten Besetzung des Genießens aus weitergedacht: Ließe sich über dieses doppelte Genießen bei Brecht vielleicht eine Brücke schlagen zwischen seiner Kritik der Oper einerseits und der Arbeit an der Oper Mahagonny andererseits? So dass wir, wenn wir uns nur intensiv genug mit seiner Kritik der Oper befassen, ex negativo Aufschluss darüber erhalten, warum und wie die Oper zur Herausforderung des (epischen) Theaters werden konnte.
Diesen Weg wollen wir im Folgenden gehen und uns in einem ersten Schritt mit jenem Genießen der bürgerlichen Klasse in der Oper befassen, von dem Brecht spricht. Wenn Brecht von der Oper redet, so meint er damit kein konkretes Werk, sondern die Oper als eine Institution des bürgerlichen 19. Jahrhunderts. In den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« hat Brecht sehr genau unterschieden zwischen einzelnen Opern, z.B. von Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, und deren präzisen und differenzierten Dramaturgien einerseits und dem kulturellen Rezeptionsapparat Oper und seinem Funktionieren des emotionalen Austauschs zwischen den Held:innen der Oper und dem Publikum andererseits. Alexander Kluge hat diesen Rezeptionsapparat treffend das »Kraftwerk der Gefühle« genannt.5 Das Kraftwerk Oper versorgt im bürgerlichen Zeitalter dessen Protagonist:innen mit den Leidenschaften, die ihnen im bürgerlichen Alltag abhandengekommen sind. In der Rechenhaftigkeit des bürgerlichen Geschäftslebens stellen Aida, Madame Butterfly, Norma, Senta und ihre Leidensgenossinnen die emotionale Grundversorgung sicher, ohne die der Antrieb fehlt, die Geschäfte tagein, tagaus zu führen. Die Oper, das geht aus ihrem Widerspruch zum bürgerlichen Alltag hervor, ist einerseits hoffnungslos anachronistisch. Ihre Heroinnen mit ihren Leidenschaften finden darin keinen Platz mehr. Sie sind nurmehr Gespenster. Ihnen begegnet der bürgerliche Opernbesucher seinerseits in der Gestalt eines Untoten, eines Vampirs: Er saugt ihnen die Leidenschaften aus, um selbst wenigstens für einen Moment das Untote des bürgerlichen Alltags abzustreifen und leidenschaftliche Gestalt anzunehmen. Wie gut das funktioniert, zeigt eine Szene aus Brechts spätem Stück Die Tage der Kommune: »Frankfurt. Oper, während einer Aufführung von Norma. Aus einer Logentür treten Bismarck in Kürassieruniform und Jules Favre in Zivil.«6 So wird die Szene eingangs beschrieben. Im Folgenden entwickelt sich ein Kuhhandel zwischen Bismarck, dessen Truppen Frankreich gerade niedergeworfen und besiegt haben, und dem französischen Ministerpräsidenten, der den Sieger servil um unauffällige Unterstützung im Kampf gegen die aufständische Commune bittet. Bismarck, der ihm die Bedingungen dafür diktiert, kann dabei seine Ohren nicht abwenden vom Gesang der sterbenden Norma, der Hohepriesterin des von den Römern unterworfenen Galliens.
Bismarck: Horcht auf Musik, die herausdringt, weil er die Logentür aufgelassen hat. Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person. Na […] ihr seid mir ja komische Käuze. Waffenhilfe schlagt ihr schamhaft ab, aber eure Gefangenen sollen wir freigeben, hintenrum. Weiß ja, weiß ja, es soll nicht mit Hilfe einer fremden Regierung geschehen sein. Nach der Melodie »Ach Theodor, du alter Bock, greif mir nicht vor den Leuten untern Rock«, wie? Horcht wieder auf die Musik. Jetzt stirbt se, epochal.7
Was die Figur Bismarcks hier exemplarisch vorführt, ist das, was Jacques Lacan und Slavoj Žižek das »Genießen des Anderen«8 genannt haben. Der Tod der Norma, der die Unterwerfung Frankreichs und den Tod der Commune symbolisch doppelt, bereitet dem preußischen Ministerpräsidenten höchste Lust: »Jetzt stirbt se, epochal.« Die äußerste affektive Grenzsituation verhilft dem Opernbesucher in Kürassieruniform zu machtvoller Leidenschaft, ohne dass sie Leiden schafft. Denn diese Norma ist einerseits eine Fremde, die aus fernen Gefühlswelten kommt, aus Zeiten und Räumen mag sein, in denen leidenschaftlicher Gesang die Welt und die Menschen zu verändern vermochte. Andererseits stellt diese Fremde ihre Dienste – kurzfristige Vorführung leidenschaftlicher Affekte samt prozentualer Beteiligung daran – gegen Bezahlung willig bereit. Von dieser Fremden droht keine Gefahr. Die Sängerin der Norma steht dem Opernbesucher mit ihren Gefühlsdiensten zur Verfügung wie eine Prostituierte – »Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person«. Eine doppelte Beziehung zum Fremden zeichnet also das »Genießen des Anderen«, zeichnet das Genießen der Klasse, von dem Brecht spricht, im »Kraftwerk der Gefühle« des 19. Jahrhunderts aus. Es bedarf einerseits des fernen Fremden, weil nur ihm Leidenschaften zugeschrieben werden können, die im bürgerlichen Alltag dysfunktional wären. Zugleich gilt es, die Herausforderung dieses Fremden und damit die Gefahr, die von ihm ausgehen könnte, zu brechen. Das geschieht durch seine Exotisierung und Einverleibung. Die Exotisierung reißt das Fremde aus seiner Lebenswelt und enthistorisiert es. Auf die Oper übertragen: Nicht mehr die Dramaturgie, die Handlung, die widersprüchliche Geschichte der Figuren sind entscheidend, sondern die Imago der äthiopischen Sklavin, der japanischen Geisha, der unterworfenen, den Eroberer liebenden Gallierin. In ihrer exotisierten, phantasmatischen Gestalt können diese Opernfiguren einverleibt und genossen werden. Das Genießen der exotischen Fremden erweitert die Gefühlsmächtigkeit des bürgerlichen Opernbesuchers. Eine eigentümliche Verbindung der Gefühle mit der Macht zeichnet das Genießen im »Kraftwerk der Gefühle« des 19. Jahrhunderts aus. Das Substrat dieser Verbindung ist der kulturelle Kolonialismus – Aida und Butterflyweisen überdeutlich darauf hin. Die Fremden, an denen sich der Opernbesucher delektiert, sind Bewohner von Gefühlskolonien, die die Kolonialstaaten mit frischen Leidenschaften versorgen. Und dennoch, darüber sind wir uns alle einig, gehen diese Opern wie viele andere mit ihnen nicht im kolonialistischen Gefühlsvampirismus auf, den der bürgerliche Rezeptionsapparat Oper bedient. Nicht nur die Forschung, sondern auch die Inszenierungen des zeitgenössischen Musiktheaters zeugen nachdrücklich davon. Auch Brecht mag gespürt haben, dass die Oper noch einen anderen Umgang mit den Gefühlen jenseits des kolonialistischen Genießens bereithält, dass sie ein anderes Verhältnis zum Fremden möglich machen kann. Deshalb arbeitet er mit dem Entwurf seines Theaters an einem anderen, an einem transmedialen »Kraftwerk der Gefühle«. Um eine Vorstellung davon zu erhalten, wenden wir uns in einem nächsten Schritt Brechts transmedialer Praxis zu.
2. Brechts transmediale Praxis oder Der Stachel des Fremden
Wie kaum ein anderer vor ihm – Denis Diderot vielleicht ausgenommen – hat Brecht über Theater überhaupt und über sein Theater in der Rede eines Fremden gesprochen. Die Künste der Malerei, des Romans, der Photographie und des Films werden ihm zu Medien, über die er sich über die eigene Kunst des Theaters verständigt. Sie wollen wissen, was der V-Effekt ist? Brecht hat ihn in einem Jahrmarktsgemälde gefunden, zu dem uns nur noch dessen Vorlage, das Historienbild Karl der Kühne nach der Schlacht von Murten überliefert ist.
Das Historienbild von Eugène Burnand zeigt eine Gruppe Flüchtender zu Pferde in rasendem Galopp und zwei wie im Flug gestreckte Hunde in einer Fluchtbewegung von rechts nach links, nahezu auf den Betrachter zu. Unterbrochen wird diese Bewegung in der Horizontalen durch zwei vertikale Barrieren. Das sich aufbäumende Pferd im Vordergrund und der Herzog selbst, der wie in Schockstarre gerade und steif auf seinem Pferd sitzt, als sei er der Flucht entzogen, aus der Bewegung herausgeschnitten. Es ist die Unterbrechung der Bewegung, der Fremdkörper in der Fluchtbahn, die den »Verfremdungsakt« bewerkstelligen. Brecht hat sich die Jahrmarktsversion des Gemäldes so nachdrücklich eingeprägt, dass er es in einem seiner wichtigsten theatertheoretischen Texte, Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst, als erste Referenz für den Vorgang der Verfremdung heranzieht. Und weiter mit Brechts transmedialen Inspirationen: Woher hat Brecht die Technik der Montage? Bekanntermaßen vom Film, präziser: von Sergej Eisenstein. Und den Grundgestus? Vom malerischen Konzept des Tableaus bei Diderot. Und so fort. Bevor wir danach fragen, was diesbezüglich mit der Oper sei, lassen Sie uns einen Moment innehalten und nach dem Grund dieser Beziehung zum fremden Medium fragen. Es ist, denke ich, ein doppelter: Zum einen lösen die Verfahren der anderen Künste offensichtlich eine Resonanz im Eigenen bei dem Stückeschreiber aus, die ihn anregt, die Grenzen des eignen Mediums zu überschreiten. Brecht, so meine These, arbeitet grundsätzlich transmedial. Für ihn sind die Malerei, der Film, die Oper nicht fremde Künste, die außerhalb des eigenen Mediums Theater stehen, sondern sie markieren das Fremde im vermeintlich Eigenen selbst. Zum anderen aber bleibt das andere Medium doch unerreichbar fremd. Was Brecht z.B. an Breughel oder Eisenstein beschreibt, lässt sich nicht eins zu eins im Theater umsetzen. Wäre dem nicht so, Brecht könnte Verfremdung, Montage und Grundgestus strikt in Termini des Theaters abhandeln. Das tut er gelegentlich. Dann aber fehlt der Abstand des unerreichbaren, grundsätzlich Fremden, der uns ein mögliches Anderes erfahren lässt jenseits dessen, was ist, weil man es offensichtlich hört und sieht. Brechts Theaterarbeit braucht den »Stachel des Fremden«9, von dem Bernhard Waldenfels spricht. Sein zukunftsweisendes Verfahren ist es, sich in seiner eigenen Theaterarbeit im Fremden zu bewegen und sich dessen Herausforderungen zu stellen. Zukunftsweisend ist es damit nicht nur als künstlerisches Vorgehen. Es zeigt sich an ihm ein grundsätzlicher Umgang mit dem Fremden, den Adorno, in Beziehung auf Joseph von Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, mit der Vorstellung einer »Schöne[n] Fremde«10 verbunden hat. Die Konstellation von Eigenem und Fremden einer solchen »Schöne[n] Fremde« hat Adorno als »versöhnten Zustand«11 verstanden. Ein solcher Zustand, so Adorno, »annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen«.12 Die von Adorno beschriebene Überkreuzung von Nähe und Ferne, Resonanz und Stachel, Eigenem und Fremden zeichnet Brechts transmediale Praxis aus.
Doch nun zur Oper: Es kommt Brechts Auseinandersetzung mit dem fremden Medium entgegen, dass sich in den zwanziger Jahren Affinitäten auftun zwischen der Komponistengeneration dieser Zeit und Brechts Stellung zur Oper. Kaum zu unterschätzen ist dabei der Einfluss von Ferruccio Busonis 1916 erschienenem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, in dem das Publikum als das »erste und stärkste Hindernis«13 für die Zukunft der Oper bezeichnet wird. Ganz im Sinne von Brechts Kritik am Genießen des Bürgertums schreibt Busoni über das Publikum:
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl deshalb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht verlangt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, unkompromittierend, und vor allem: unanstrengend.14
Es ist nicht bekannt, ob Busoni und Brecht in den frühen zwanziger Jahren Kontakt hatten. Ein Exemplar der Neuen Ästhetik der Tonkunst befand sich in der privaten Bibliothek des späten Brecht. Angesprochen haben dürfte ihn darin mit Gewissheit Busonis Plädoyer für die Eigenständigkeit der einzelnen Kunstgattungen, das gerade für die Oper zu einer Absage an die Illustrationen der Programmmusik und einer Hinwendung zur Idee einer absoluten Musik führt. Hier ist eine Stellung der Künste zueinander angelegt, die Brecht später als »Trennung der Elemente«15 bezeichnen wird. Und eine weitere entscheidende Vorstellung verbindet sich damit: die einer Folge von in sich abgeschlossenen Zuständen als Strukturelemente der Oper. So hat es der Meisterschüler Busonis, Kurt Weill, gesehen, der in seinen Anmerkungen zu meiner Oper »Mahagonny« im März 1930 schreibt:
Es ist eine Folge von 21 abgeschlossenen musikalischen Formen. […] Die Musik ist hier also nicht mehr handlungsleitendes Element, sie setzt da ein, wo Zustände erreicht sind. Daher ist das Textbuch von Anfang an so angelegt, daß es eine Aneinanderreihung von Zuständen darstellt, die erst in ihrem musikalisch fixierten, dynamischen Ablauf eine dramatische Form ergeben.16
Dass Weill nicht die Handlung, sondern einzelne Zustände in den Fokus stellt, dürfte die größte Anziehungskraft ausgemacht haben, die diese neue Oper (die nicht mit den Zeitopern der Kreneks, Brands und Hindemiths zu verwechseln ist), auf Brecht ausgeübt hat. Denn das epische Theater, erläutert Walter Benjamin, »hat nicht so sehr Handlungen zu entwickeln, als Zustände darzustellen«.17 Hier, in der Fokussierung des Zustands, der Auszeit der Handlung, findet Brecht das Eigene im Fremden wieder. Hier, in der Attraktion des Zustands, ist sie zu vernehmen, die Resonanz des Fremden, auf die Brechts transmediale Praxis so sehr aus ist. Allerdings bleibt ihr auch in diesem Fall der Stachel des Fremden, die unhintergehbare Fremdheit des Fremden beigesellt. Sie artikuliert sich, bei aller Affinität zwischen dem Dichter und dem Opernkomponisten, in einer letztlichen Äquivokation des Terms Zustand. Für Weill leitet sich daraus das Primat der Musik ab, dem das Textbuch zu seiner Oper Mahagonny nur zuarbeitet. Brecht aber wird dieser Stachel des Fremden zur Herausforderung, erneut über den transmedialen Umgang mit dem Fremden, erneut über die Oper als das inhärente Fremde des epischen Theaters nachzudenken. Brechts im Dezember 1930 erschienenen Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« gehen deshalb über eine Antwort auf Weill und eine Auseinandersetzung mit ihm hinaus. Sie eröffnen vielmehr ein transmediales Spannungsfeld, das es verbietet, das eine dem anderen zuzuschlagen – das epische Theater der Oper oder die Oper dem epischen Theater – oder die beiden Kunstmedien in einem höheren Gesamtkunstwerk zusammenzuführen. Damit ist eine ästhetische Praxis angesprochen, die von größter Bedeutung für das Verhältnis zum Fremden ist: die Praxis des Trennens. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die Herausforderung des Fremden erhalten bleibt, dass es nicht einverleibt und genossen werden kann. Die Praxis des Trennens ist eine Grundoperation von Brechts transmedialem Theater. Sie artikuliert sich im Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, sie ist die Voraussetzung seiner Kritik des Gesamtkunstwerks und sie bestimmt die Konzepte der Geste und des Zustands. Vor allem aber generiert, ausgerechnet, die Praxis des Trennens die Gefühle, die Brechts Theater so gerne abgesprochen werden. Über das Trennen konstituiert sich damit jenes andere »Kraftwerk der Gefühle«, die inhärente Oper in Brechts eigenem Schaffen. Der Grundoperation des Trennens in den genannten Ausprägungen möchte ich mich in einem nächsten Schritt zuwenden.
Im Dialog über Schauspielkunst von 1929 schreibt Brecht: »Nicht nahekommen sollten sich Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.«18
Was zunächst wie die bekannte Forderung nach Abstand klingt, um besser nachdenken zu können, nimmt eine unerwartete Wende hin zu einer Schrecken auslösenden Entfernung aller von sich selbst und allen anderen. Der Schrecken des Von-sich-selbst-entfernt-Seins aber soll die Bedingung von Erkenntnis sein. Auf engstem Raum verknüpft Brecht hier die Trennung von jedem und allem – »Jeder sollte sich von sich selbst entfernen« – mit dem tiefen Gefühl des Schreckens und der vernünftigen Einsicht. Das ist eine Absage an alle harmlosen Exegesen der Verfremdung, die sie auf einen Akt der Reflexion reduzieren. Stattdessen gemahnt Brechts Engführung von fern an die aristotelische Katharsis und deren Betonung des phobos und mehr noch an die Ästhetik des Erhabenen, in der der ohnmächtige Schrecken, den der Zusammenbruch der Einbildungskraft auslöst, eine zentrale Rolle spielt. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Katharsis strebt die Reinigung von negativen Gefühlen an, der ohnmächtige Schrecken in der Ästhetik des Erhabenen wird sublimiert und in moralische Überlegenheit verwandelt. In beiden Fällen geht die emotionale Wucht des Schreckens verloren. Bei Brecht bleibt sie erhalten, indem sie sich transformiert. Wie geht das vor sich?
Der Vorgang des Sich-von-sich-selbst-Entfernens spaltet und teilt die geschlossene Gestalt des Individuums, die sich im späten 18. Jahrhundert in Europa herausgebildet hat. In ihr ist eine »Gewalt des Zusammenhangs«19am Werk, die sich als Macht der Unterwerfung nach innen wie nach außen geriert. Sie ist das Subjekt, das sich Fremde einverleibt und genießt. Diese Gewalt sucht Brecht zu entmächtigen durch eine historisch-anthropologische wie künstlerisch-praktische Politik der fortgesetzten Teilung der Gestalt und der Trennung des Geteilten. Teilung und Trennung sind der Triebgrund einer umstürzenden Emotion, die zur Erkenntnis wird.
Die Operationen des Teilens und Trennens schneiden ins Fleisch der geschlossenen Gestalt und greifen deren phantasmatische Einheit und Identität an. Das löst Schrecken aus, den Schrecken der Entsetzung. Und sie befreit zugleich alles Singuläre, das im Zusammenhang der Gestalt gewaltsam eingebunden war: den Eigensinn aller Sinne und Gefühle, die Einzelkünste, die Gesten und die Zustände. In den befreiten Singularitäten transformiert sich der Schrecken der Teilung in Erschütterungsenergie. Erschütterungsenergie lädt die Einzelteile affektiv auf und stärkt sie, so dass sie eine erschreckend starke emotionale Kraft entfalten.
Um diese affektive Stärke ist es Brecht zu tun, wenn er die Schwächung der einzelnen Künste im Gesamtkunstwerk kritisiert und stattdessen eine »Trennung der Elemente« fordert. In den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« heißt es dazu:
Der große Primatkampf zwischen Wort, Musik und Darstellung (wobei immer die Frage gestellt wird, wer wessen Anlass sein soll – die Musik der Anlass des Bühnenvorgangs, oder der Bühnenvorgang der Anlass der Musik usw.) kann einfach beigelegt werden durch die radikale Trennung der Elemente. Solange ›Gesamtkunstwerk‹ bedeutet, dass das Gesamte ein Aufwaschen ist, solange also Künste ›verschmelzt‹ werden sollen, müssen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen degradiert werden, indem jedes nur Stichwortbringer für das andere sein kann.20
Brechts Idee einer Trennung der Künste wendet sich gegen die Idee eines Gesamtkunstwerks, das nach dem Prinzip der wechselseitigen Ergänzung die einzelnen Künste addiert und multipliziert, um eine überwältigende emotionale Wirkung zu erzielen. Dabei schwächt sie die unterschiedlichen Elemente in ihrer je spezifischen Wirkung und unterwirft das Fremde dem Phantasma eines sinnvollen Ganzen. Soll dagegen die transmediale Konstellation der Künste die Herausforderung des Fremden behalten, muss, so Brecht, auf einer »Trennung der Elemente« in der jeweils eigenen Arbeit bestanden werden. Daraus folgt auch, dass Überlegungen, ob die gestische Aktion bei Brecht von der Sprache oder von der Musik initiiert ist, a priori in die Irre gehen. Es liegt ihnen nämlich ein oberflächliches Verständnis der Geste zu Grunde, dass sie auf jedwede Formen des körperlichen Zeigens und Ausdrückens reduziert. Die besondere Idee der Geste bei Brecht (und seinem Leser Walter Benjamin) hingegen macht es möglich, dass sich die Geste in der schauspielerischen Aktion, in der Sprache und in der Musik gleichermaßen auf je eigene Weise manifestiert. Diese Idee der Geste bei Brecht möchte ich kurz erläutern.
Auch die Geste, der eigentliche Akteur in Brechts Theater, entspringt einer doppelten Operation des Trennens: »Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen«21, so lautet Walter Benjamins berühmte Beschreibung der Geste im epischen Theater. Die Heraustrennung der Geste aus einem Handlungszusammenhang qua Unterbrechung macht die Geste nach Benjamin fixierbar und – vor allem – zitierbar. Die Zitierbarkeit ist das wesentliche Charakteristikum der Geste bei Brecht. Ihre Zitierbarkeit aber ver-setzt die Geste in Bewegung zwischen Zeiten und Räumen und immer an einen fremden Ort. Der Geste kommt, mit aller Vorsicht gesprochen, eine migrantische Existenz zu. Dabei verwandelt sich der Schrecken der Ver-Setzung, der Dys-Position, in affektive Schwingungen zwischen Zeiten und Räumen. Gesten lösen Resonanzen zwischen unterschiedlichen Zeiten und Räumen aus und bewirken sinnliche Evidenzen, die sich nicht erschöpfen im sprachlichen Sinn. Das ist das Resultat einer ersten Trennungsoperation, die die Geste in die Welt setzt.
Die tiefste Schicht ihrer affektiven Kraft kommt der Geste paradoxerweise durch den Umgang mit ihrer Heraustrennung aus einem Ganzen, nämlich durch die Exposition ihrer Unvollkommenheit zu. Die Geste, die der Unterbrechung entspringt, sieht sich um ihre Intentionalität und ihre Finalität und damit um die Souveränität des Handelns gebracht. Das schreibt ihr die Züge des Unvollendeten und Mangelhaften ein. Scham ist der durchschlagende Affekt, der mit deren Enthüllung einhergeht. In der Scham sieht sich der Beschämte entblößt den Blicken der anderen ausgesetzt. Die schamvolle Aussetzung ist das Double jener Aussetzung, die als Unterbrechung bezeichnet wird. Scham ist der Affekt der im doppelten Sinn ausgesetzten Geste. Ohne Scham, d. h. ohne schamvolles Bedecken und Verbergen des menschlichen Makels, bietet sie sich dem Fremden dar, entblößt und offen für die Berührung. In der Geste der Scham transformiert sich das Ent-Setzen der Aussetzung in eine affektive Kraft, uns zu berühren. Die Geste der Scham ist auch die Geste der Berührung.
Gesten sind nicht nur in Bewegung, sie kristallisieren sich in Zuständen. Die Bewegung der Geste hält ein auf ihrer Wanderung und gewinnt Raum im Zustand. Zustand ist ein nüchternes Wort, das alles bedeuten kann und nichts. Was ist so faszinierend, dass Benjamin und Brecht im Zustand die Form des künftigen Theaters sehen? Im Zustand staut sich die fortlaufende Zeit der Handlung und wird Stasis. In der Stasis wiederum verräumlicht sich die gestockte Zeit und wird Raum-Zeit. In der Raum-Zeit der Stasis treten das Geteilte und Getrennte, treten das Eigene und das Fremde in dynamische Konstellationen, die eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnen, Eigenes und Fremdes immer erneut und anders zu kombinieren. Dabei laden die getrennten Elemente, die unterschiedlichen Gesten und das gestisch Herbeizitierte den Zustand der Stasis mit allen Formen der Trennungsenergie affektiv auf. Der Zustand in Brechts Theater, die affektiv-dynamische Stasis, ist das andere »Kraftwerk der Gefühle«, das Double jenes Rezeptionsapparats Oper, der Brecht noch in der Verwerfung zum Ansporn wurde. Die Gefühle, die hier freigesetzt werden, verdanken sich dem Aufbruch der geschlossenen Gestalt des Individuums, ihrem Aufbrechen – in einer weiteren Bedeutung des Worts – hin zum Fremden – außerhalb der eigenen Gestalt und in ihrem Innern.
3. Der Schauplatz der transkulturellen Eröffnung22
Wie unterschiedlich auch immer Brecht und Weill das Konzept des Zustands verstanden haben mögen, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ist ein hervorragendes Beispiel für die Exposition affektiv-dynamischer Stasen in jenem anderen »Kraftwerk der Gefühle«, das das epische Theater, das epische Musiktheater ist. Mahagonny seziert die Manipulation der Bedürfnisse, Wünsche und Triebe in Zeiten des vollendeten Kapitalismus. Fressen, Saufen, Ficken und Sich-Schlagen sind die Rudimente des Begehrens im Amüsierbetrieb von Mahagonny. Im 2. Akt steht eine Schlange von Männern vor dem Bordell, die ungeduldig darauf warten, dass sie dran sind: »Rasch, Jungens, he! / Stimmt ihn an den Song von Mandelay: / Liebe, die ist doch an Zeit nicht gebunden / Jungens, macht rasch, denn hier geht’s um Sekunden.«23
Die angebliche Zeitlosigkeit der Liebe ist hier ironisch heruntergebrochen auf die Stoßzeit des sexuellen Akts, die der Sekundentakt der kapitalistischen Arbeitszeit diktiert. Dann kommt der Schnitt und der Himmel über Mahagonny reißt auf: »Sieh jene Kraniche in großem Bogen!«.24 Das ist die Geste der Prostituierten Jenny. Sie zeigt auf die Bewegung der Kraniche, sie zeigt das eigene Zeigen und sie zeigt dabei ungewollt, unbewusst, sich. Das Nahe und das Entfernte, das Eigene und das Fremde sind in der Geste dieses »Sieh« zusammengestellt. Sie öffnet einen Raum voll mit Bildern und Zitaten unterschiedlicher Zeiten und Räume, die die Geste mit sich führt. Die anfängliche Geste des »Sieh« teilt sich dabei in einzelne fixierte Gesten auf, die sich zueinander in Beziehung setzen. Auf mehrfache Weise werden die Gesten dabei von Gefühlen begleitet: zum einen von den Gefühlen, die sie zitieren, zum anderen von der Schwingungsenergie und nicht zuletzt von der Kraft der Berührung, die von der Geste ausgeht. So entsteht der Raum einer affektiven Stasis. Dieser Raum wird durchschritten und vermessen von einem Gedicht, das Brecht 1927 unter dem Titel Die Liebenden geschrieben hat. Für Mahagonny hat er es in die Form eines Duetts Duett zwischen Jenny und dem Holzfäller Paul Ackermann gebracht.
Jenny |
Sieh jene Kraniche in großem Bogen! |
Paul |
Die Wolken, welche ihnen beigegeben |
Jenny |
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen |
Paul |
Aus einem Leben in ein andres Leben. |
Jenny |
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile |
Beide |
Scheinen sie alle beide nur daneben. |
Jenny |
Daß so der Kranich mit der Wolke teile |
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen |
|
Paul |
Daß also keines länger hier verweile |
Jenny |
Und keines andres sehe als das Wiegen |
Des andern in dem Wind, den beide spüren |
|
Die jetzt im Fluge beieinander liegen |
|
Paul |
So mag der Wind sie in das Nichts entführen. |
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben |
|
Jenny |
So lange kann sie beide nichts berühren |
Paul |
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben |
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. |
|
Jenny |
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen |
Scheiben |
|
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. |
|
Paul |
Wohin ihr? |
Jenny |
Nirgend hin. |
Paul |
Von wem davon? |
Jenny |
Von allen. |
Paul |
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? |
Jenny |
Seit kurzem. |
Paul |
Und wann werden sie sich trennen? – |
Jenny |
Bald. |
Beide |
Die Beziehung zwischen Kranich und Wolke, die das Duett eingangs beschreibt, ist die einer innigen Verbundenheit, die sich allein durch Abstand und Vorübergang einstellt. So heißt es im Gedicht: »Daß so der Kranich mit der Wolke teile / Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen / Daß also keines länger hier verweile / Und keines andres sehe als das Wiegen / Des andern in dem Wind den beide spüren / Die jetzt im Fluge beieinander liegen.« Weiter im Duett: »In gleicher Höhe und mit gleicher Eile / Scheinen sie alle beide nur daneben.« Offensichtlich ist, dass Brecht in dieser Passage des Gedichts/des Duetts eine Reihe fernöstlicher Ideen und Bilder anführt. Der Kranich steht im chinesischen Denken für langes Leben, hohes Alter und Weisheit. Die Wolke apostrophiert das Vorübergehende, Unbeständige und Beiläufige. Beide weisen auf die Attraktion von Yin und Yang im Daoismus hin. Der leere Raum des »[B]loß daneben« findet in der japanischen Vorstellung des Ma eine Resonanz. Das Nichts, in das der Wind die Liebenden entführen mag, mag an die Erleuchtung des zen-buddhistischen Satori erinnern. Es mag. Denn es sind Assoziationen, die hier gestisch zitiert werden, und keine interpretatorischen Zuschreibungen und Festlegungen. Bevor es dazu kommen kann, ist das Gedicht/das Duett weiter und in anderen Zeiten und Räumen unterwegs: »Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben / So lange kann sie beide nichts berühren / So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben / Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.« Das ist nicht mehr China und Japan, das sind Europa und Deutschland in der Zeit um 1800. Es ist die frühbürgerliche Idee der romantischen Liebe, die allen Umständen trotzt, auch der bürgerlichen Realität dieser Liebe, die sich im Song der Männer vor dem Bordell artikuliert. Es ist die Idee des amor vincit omnia, die Idee eines Paares, eng verbunden gegen den Rest der Welt. Es sind also zwei sehr verschiedene Vorstellungen und Gefühlswelten des liebenden Beieinanderseins, die das Gedicht anführt. Es entscheidet sich für keine von beiden. Beide sind vielmehr durch die Kunst der Terzinen ineinander verwoben, so dass der Wunsch nach einer leichten Liebe im Vorübergehen mit der Sehnsucht nach Halt und Dauer der Beziehung korrespondiert. Dass die romantische Erinnerung an die eigene deutsche Geschichte der Gefühle mit den Glückversprechungen ferner Kulturen in Beziehung tritt.
In den affektiven Gesten des Gedichts sind unterschiedliche Zeiten und Räume zitierend zusammengestellt. Zu den Gesten des Texts treten die der Musik. Weder illustrieren die musikalischen Gesten die der Sprache noch werden sie zum Präzeptor für diese. Die Musik Weills folgt ihrem Eigensinn, auch wenn sie eine hohe Affinität zu Brechts Verfahren auszeichnet. Auch Weills Musik verfährt gestisch. Es ist, wie Adorno schreibt, eine Musik »aus Trümmern der vergangenen Musik«26, die sie gestisch evoziert. Im Kranich-Duett zwischen Jenny und Paul zitiert sie das Prinzip einer barocken Arie in einer Kantate oder einem Oratorium von Händel oder Bach. Der Einleitung durch eine Gruppe von Holzbläsern folgen abwechselnd Sängerin und Sänger, jeweils unterbrochen, umspielt und begleitet von der Bläsergruppe. Keine Parodie ist damit angestrebt, sondern die Ausstellung von Begleitung, einfach nur Danebensein oder: Schöne Fremde. In der emotionalen Anmutung der Barockmusik klingt sie wie ein Versprechen.
Unterschiedliche Gefühle, gebunden an einzelne Gesten, Haltungen, Elemente und Zustände, treffen in der affektiven Stasis von Mahagonny aufeinander. Was ist der Zweck dieses »Kraftwerks der Gefühle«? Zur Erinnerung: Der Schrecken des Sich-von-sich-selbst-Entfernens, des Teilens und Trennens sollte nach Brecht zur Erkenntnis führen. Welche Erkenntnis ist damit gemeint? Mit Sicherheit keine, die die Erschütterungsenergie verleugnet, aus der sie hervorgegangen ist. Erkenntnis, die bei der Erschütterung verweilt, der sie sich verdankt, heißt Erfahrung. In der Erfahrung sind affektive Ergriffenheit und Reflexion aufeinander bezogen.
Drei Erfahrungen sind es, die die affektive Stasis bereithält: die Erfahrung der Ent-Setzung, die Erfahrung der Ver-Setzung und die Erfahrung der Aus-Setzung. Es sind Erfahrungen von Leuten, die ohne Halt unterwegs sind, realistische Erfahrungen in einer Migrationsgesellschaft, Erfahrungen unter Fremden, die im Unterwegs sind. Ihr geheimes Gravitationszentrum aber ist das latente Wissen, dass nicht nur die eigene Existenz, sondern jede bestehende Ordnung, die von Mahagonny und jede andere, nicht von Dauer ist. Diese dämmernde Einsicht wird von einer zweiten latenten Erfahrung begleitet, dass nämlich die in der Stasis angestauten Bruchstücke der Spaltungen, Teilungen und Trennungen auf einen anderen, versöhnten Zustand hindrängen, dessen Realisierung die Stasis zugleich beharrlich verweigert. Mit den affektiven Trennungen und Teilungen der Stasis in Mahagonny geht die Latenz eines Künftigen einher, die die Transzendierung der Realität des Kapitalismus und der Kulturindustrie ankündigt. Deshalb hat Adorno Mahagonny »die erste surrealistische Oper«27 genannt. Jenseits der Realität ist im »Kraftwerk der Gefühle«, das Mahagonny ist, die Erfahrung eines Künftigen latent. Adorno hat sie in den Satz gefasst: »Mahagonny ist eine Darstellung der sozialen Welt, in der wir leben, entworfen aus der Vogelperspektive einer real befreiten Gesellschaft.«28 Die Vogelperspektive, von der er spricht, ist die der Kraniche und jener Wolken, »welche ihnen beigegeben.« Sie sind in Mahagonny unterwegs in eine befreite Gesellschaft aller Ent-Setzten, Ver-Setzten und Aus-Gesetzten, sie sind unterwegs in eine transkulturelle Zukunft.
Endnoten
- 1 Keynote auf dem Kongress tosc@ bern 2017. 2nd transnational opera studies conference vom 5. – 7. Juli 2017 in Bern.
- 2 Siehe dazu u. a. die Studien von Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985; Lucchesi, Joachim/Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht, Frankfurt a. M. 1988; Stegmann, Vera: Das epische Musiktheater bei Strawinsky und Brecht, Frankfurt a. M. 1991; Calico, Joy H.: Brecht at the Opera, Berkeley 2019.
- 3 Brecht: [Oper mahagonny], in: Kölbel, Martin/Villwock, Peter (Hrsg.): Notizbücher 24 und 25 1927-1930, NB 25, 66, Frankfurt a. M. 2010, S. 348 f.
- 4 Brecht: [Baal], in: ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im Folgenden BFA) Bd. 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 83 – 137, hier S. 85.
- 5 Kluge, Die Macht der Gefühle.
- 6 Brecht: [Die Tage der Kommune], in: BFA Bd. 8, S. 243 – 317, hier S. 299.
- 7 Ebd.
- 8 Siehe Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«.
- 9 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990.
- 10 Eichendorff, Joseph von: Werke in einem Band, hrsg. v. Wolfdietrich Rasch, München 1995, S. 35 f.
- 11 Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1997, S. 192.
- 12 Ebd.
- 13 Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt, Frankfurt a. M. 2016, S. 25.
- 14 Ebd., S. 25 f.
- 15 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in: BFA, Bd. 24, S. 79.
- 16 Weill, Kurt: [Anmerkungen zu meiner Oper Mahagonny], in: Hinton, Stephen/ Scheberg, Jürgen (Hrsg.): Musik und Theater. Gesammelte Schriften, Berlin 1990, S. 76.
- 17 Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 519 – 531, hier S. 521.
- 18 Brecht: [Dialog über Schauspielkunst], in: BFA Bd. 21, S. 279 – 282, hier S. 280.
- 19 Siehe Kluge/Negt, Oskar: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1981.
- 20 Brecht: [Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], S. 79.
- 21 Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)]«, ebd.
- 22 Im Weiteren folge ich den Ausführungen zu Mahagonny in Heeg: Das transkulturelle Theater.
- 23 Brecht: [Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in: BFA Bd. 2, S. 333 – 389, hier S. 363.
- 24 Ebd., S. 364.
- 25 Ebd., S. 364 f.
- 26 Adorno: [Mahagonny], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 115 – 122, hier S. 120.
- 27 Ebd., S. 119.
- 28 Ebd., S. 114.