theaterbauten
Chance vertan
Die Stadt Zürich entscheidet sich gegen den Neubau ihrer traditionsreichen Spielstätte Pfauen – ausgerechnet aus Traditionsgründen
von Martin Wigger
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Schweiz Debatte Dossier: Neubau & Sanierung Schauspielhaus Zürich

Wir sind in Zürich – und daher ist es nicht unbedingt erstaunlich: Es waren keineswegs finanzielle Gründe, die den Gemeinderat der Stadt im März dem langjährigen Projekt „Neubau des Pfauensaales“ eine Abfuhr erteilten und stattdessen eine sanfte Sanierung des zuletzt 1976 renovierten Hauses propagierten. Ganz im Gegenteil: Ein geplanter Neubau wäre nach einer Medienmitteilung der Stadt Zürich bei veranschlagten 115 Millionen Franken sogar die Lösung mit tiefsten Kosten bei gleichzeitig höchstem Nutzwert gewesen. Die jetzt beschlossene sanfte Sanierung beläuft sich einschließlich ihrer Projektierung auf 114 Millionen. Also eine Absage mit fast gleichen Kosten. Aber ohne denselben Nutzwert. Bekannte Probleme bei Akustik, Sicht und Umbauten erhalten nun lediglich eine Nachbesserung.
Was ist da passiert? Zunächst ein kurzer historischer Blick auf das, was zur Absage geführt hat, aus Gründen der „Tradition“. Der Pfauen ist das Stammhaus des größten Sprechtheaters der Schweiz, benannt nach der ehemaligen Gastwirtschaft Zum Pfauen auf eben diesem Gelände. Der ursprünglich 1888/89 errichtete Komplex entwickelte sich schnell zum Amüsiertempel Zürichs, mit Biergarten plus Kegelbahn und dem Volkstheater zum Pfauen. Es war der Weingroßhändler Ferdinand Rieser, der als erster Direktor eines offiziellen Schauspielhauses dem Pfauen historische Dimension gab, und zwar in Funktion eines Theaters für ab 1933 emigrierte bekannte Künstlerinnen und Künstler wie Therese Giehse, Grete Heger, Kurt Horwitz, Walter Felsenstein oder Bertolt Brecht. In dieser Zeit war das Zürcher Schauspielhaus die einzige antifaschistische Bühne im ganzen deutschsprachigen Raum. Gerade wieder in Zeiten von politischem Diktat auf vielen Bühnen Osteuropas kann man nicht laut genug an diese Haltung des Schauspielhauses Zürich erinnern. Landesverteidigung als künstlerisches Denkmal.
Aber erst im Nachhinein. Denn als 1952 der Pachtvertrag der Stadt mit dem längst gestorbenen Rieser auslief, verweigerten interessanterweise die Zürcher ihre Zustimmung zum Erwerb des Pfauen durch die Stadt (zu einem Kaufpreis von drei Millionen Franken) und ließen die Schweizerische Bankgesellschaft in letzter Sekunde einspringen, damit überhaupt ein neuer Vertrag geschlossen werden konnte. Wäre dies nicht passiert, gäbe es am Pfauen keine weiteren historischen Meilensteine wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt – wobei man nicht vergessen sollte, dass ihre Premieren nicht nur bejubelt wurden und es sogar Max Frisch war, der nach einem Direktionswechsel 1970 das Haus für viele Jahre nicht mehr betrat. Und selbst Christoph Marthaler gab als Intendant unter massiven Protesten des Publikums und ohne politische Rückendeckung auf.
Eine Erinnerungs- und Traditionskultur mit stotterndem Motor. Immerhin erhielt Marthaler 2017 den Zürcher Kulturpreis für seine Verdienste um die Stadt, und man muss ein wenig schmunzeln, wenn nun das Schauspielhaus als Exil gewährender Ort, für dessen Fortbestand kurz nach dem Krieg eine Bank einspringen musste, ähnlich posthum aufgebläht wird. Übrigens mit geschlossener Haltung nahezu sämtlicher Parteien. Für die Stadtpräsidentin Corine Mauch, für die Unterstützungskampagne „Pro Pfauen“ namhafter Kulturschaffender aus der Stadt und natürlich für das Schauspielhaus Zürich selbst eine komplette Niederlage. Denn der jahrelange Prozess war vonseiten der Stadt und des Theaters klar aufgegleist. Vier Varianten (Bestandessanierung, Sanierung mit kleinen Eingriffen, Sanierung mit großen Eingriffen, mfassende Erneuerung) und ein fest gesprochener Projektierungskredit standen in allen Details zur Diskussion. Befürwortet aufgrund vieler Expertisen wurde von der Stadt, allein wegen der jeweils gleichen Kostenlage, die mfassende Erneuerung. Es schloss sich, politisch korrekt, ein langer öffentlicher Diskurs an, um Nutzerbedürfnisse und langfristige Entwicklungsperspektiven abzuklären. Und eben das Thema „Erinnerungsort Pfauen“, das schließlich – politisch zu korrekt – dem besten Nutzwert und den längsten Perspektiven den Rang ablaufen sollte.
„Der Abbruch des historischen Schauspielhauses wäre eine präzedenzlose, kulturhistorische Barbarei“, wetterte SP-Gemeinderat Mark Richli. Und sein Kollege von den Grünen, Balz Bürgisser, präzisierte: „Der Pfauensaal ist ein Ort der Geschichte, ein Ort des Widerstands im Zweiten Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus.“ Aber reicht das wirklich aus? Hängt Geschichte an rotem Plüsch und Kronleuchtern? Zumal das Schauspielhaus selbst bei umfassender Erneuerung lediglich ausgehöhlt worden wäre; Fassade und Gebäudehülle standen nie zur Diskussion. Und dennoch rief die schweizerische Landesverteidigung nach einem architektonischen Denkmal – allein formell lag sie beim Zürcher Hochbauchef André Odermatt. Und die Kunst? Hat in diesem Fall das Nachsehen. Und die bekannt schlechte Akustik und eingeschränkte Sicht? Wird halt nachgebessert mit all dem Geld für den nicht realisierten Neubau. Natürlich gibt es immer wieder den Verweis auf die attraktive Spielstätte des Schiffbaus im Westen der Stadt: Aber hier ist kein Repertoirebetrieb möglich, abgesehen von der Randlage.
Also eine große Chance vertan für Zürich und sein Theater. Vertan, weil direkt gegenüber dem Pfauen, im millionenteuren David-Chipperfield-Neubau des Kunsthauses, eine große Sammlung von unrechtmäßig erworbenen Bildern aus ehemals jüdischem Besitz jeder angemessenen Erinnerung spottet – und international Empörung auslöst. Vertan aber vor allem, weil gleichzeitig das Zürcher Schauspielhaus unter seinen Intendanten Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann international Aufmerksamkeit erntet. Und auch innerhalb der Stadt ist es wieder zu einem Ort geworden, über den man spricht und an dem man mit seinen Arbeiten neue Räume aufmacht. Künstlerisch. Aber nicht architektonisch. Der Pfauen wirkt wie ein gedrungenes Kaffeehaus aus den mittleren Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Bedeutung, mit der an die einst großen Zeiten erinnert werden soll, ist dem Saal in keiner Weise anzumerken. An dieser Stelle hätte wirklich größer gedacht werden können, wenn eine Politik schon großzügig sein will. Einen Vorgeschmack haben die Intendanten bereits bei ihrer Eröffnung gesetzt, mit einem komplett entkernten Foyer, das in seinem provisorischen Charakter immer schon Hoffnung auf weitere Aushöhlungen machte. Vielleicht fehlten in der ganzen Debatte auch konkretere Bilder eines architektonisch interessanten Entwurfs für den Saalumbau.
Wir sind in der Schweiz: Kann sein, dass das Zürcher Stimmvolk in dieser Angelegenheit das letzte Wort hat, gerade wenn die Kosten der beschlossenen sanften Sanierung endgültig bekannt sind. Und man sich einmal vergegenwärtigt, wie schnell die Stadt ansonsten auf Bausanierung verzichtet. Insbesondere auf dem öffentlichen Wohnungsmarkt. Mit längerfristiger Perspektive bei höherer Rendite. Ein Investitionsgedanke, der nun dem Schauspielhaus versagt bleibt. //