Auftritt
Münster: Wer ist Sandra?
Theater Münster: „Orestie“ von Aischylos mit Texten von Sivan Ben Yishai, Miru Miroslava Svolikova, Maren Kames. Regie Elsa-Sophie Jach, Bühne Marlene Lockemann, Kostüme Johanna Stenzel
von Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Theater Münster

Da steht sie auf der vernebelten Bühne. Iphigenie, die Unerzählte, die Vorgeschichte, das Opfer, mit dem sich Vater Agamemnon günstige Winde für den Krieg gegen Troja erkaufte. Die Frau, von der bei Aischylos zwar die Rede ist, die aber in der „Orestie“ weder Stimme noch Körper bekommt. Nun ist sie da und erzählt, wie sie als Kind nachts aus dem Bett geholt wurde, damit sie sich Geschichten anhörte, Geschichten, die der Vater ihr ins Hirn gepflanzt hat. „Das Dilemma meines Vaters (Iphigenie)“ heißt der Text von Sivan Ben Yishai.
Er ist ein starker Anfang der „Orestie“ im Theater Münster. Ein vielschichtiger Text über eine mythologische Gehirnwäsche, den Missbrauch durch Geschichten. Aber auch über das Verblassen der Tradition, eine Mischung aus Wut, Ironie und Ablehnung der Opferrolle. Er ist der erste von drei Texten, die für die Aufführung entstanden sind. Sie bilden Anfang, Mitte und Ende der „Orestie“, die in der Übersetzung von Peter Stein gespielt wird. Feministische Perspektivwechsel in einem Stück, das die Keimzelle des europäischen Theaters darstellt.
So war es vielleicht gedacht, und das wäre spannend gewesen. Das Problem der Münsteraner Inszenierung ist: Die Regisseurin Elsa-Sophie Jach interessiert sich überhaupt nicht für die antike Männertragödie. Das achtköpfige Ensemble verwitzelt und verjuxt die mythische Geschichte um Schuld und Rache, die wieder neue Schuld auslöst. „Guck mal, da ist Sandra.“ – „Welche Sandra?“ – „Ach, Kassandra.“ Auf diesem überschaubaren Gagniveau plappern die Spieler:innen vor sich hin, während das übrige Ensemble im Publikum vergnügt vor sich hin kichert. Oft erinnert die Premiere an die Präsentation einer Schauspielschule.
Das Bühnenbild von Marlene Lockemann zeigt eine Comic-Antike, instabile Säulen und einen Tempel, dessen Wände effektvoll rauf- und runtergefahren werden können. Ein bisschen Queerness darf natürlich auch nicht fehlen. Aigisth, der Geliebte von Königin Klytaimnestra, ist eine Frau, die Seherin Kassandra wird lange Zeit von einem Mann gespielt. Obwohl ständig vom Krieg die Rede ist, finden sich keine Spuren der aktuellen Geschehnisse in der Aufführung. Nichts tut weh: Wenn jemand stirbt, schreit er einmal im Off und plumpst auf die Bühne. Die einzige weiterführende Idee entwickelt die Aufführung im Kassandra-Text von Miru Miroslava Svolikova.
Die Seherin vervielfältigt sich, die Kassandras kommen in Begleitung von Kindern auf die Bühne. Es werden immer mehr. Junge Menschen, die breitbeinig und trotzig ins Publikum schauen. Sie verkörpern später die Erinnyen, die Orest nach seinem Muttermord jagen. Bis es zu einem Gerichtsprozess in Athen kommt. Pallas Athene befreit Orest von seinem Fluch und setzt dem Kreislauf der Gewalt ein Ende. Das wurde früher als Geburtsstunde der Demokratie interpretiert, ist aber eher die Etablierung einer patriarchalen, bürgerlichen Herrschaft. Die Erinnyen machen dabei nicht mit. Sie lassen sich auch nicht von der Aussicht auf ein Luxusleben kaufen, sondern jagen Orest und das alte weiße Götterpack von der Bühne. Ein bisschen Fridays for Future fehlte noch in der Ansammlung modischer Theaterthemen. Was bleibt, ist Leere und eine Elektra, die – betextet von Maren Kames – noch zwanzig Minuten vor sich hin heinermüllert, virtuoses Blabla über den nach ihr benannten Komplex und das Trauertragen.
Das Ensemble lässt gelegentlich erkennen, dass es zu einer nuancierten Textgestaltung fähig ist. Aber nachvollziehbare Rollen entwickelt niemand, der Text bleibt Material, das mehr kommentiert als gespielt wird. Das Jammern und Schaudern, das die antike Tragödie auslösen wollte, ist nicht einmal zu ahnen und wird durch Giggeln und Grinsen ersetzt. Das ist schade, denn die neuen Texte haben das Potenzial, das männerlastige Stück aufzubrechen. Dafür müsste es allerdings eine Fallhöhe geben, eine Basis, gegen die man anspielen kann. So bleibt die Münsteraner „Orestie“ ein boulevardeskes Späßchen, ein intellektuelles Leichtgewicht am Beginn einer Intendanz, deren Spielplan weiterhin viel verspricht. Nur leider zu Beginn kaum etwas einlöst. //