Theater der Zeit

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Auftritt

Volksbühne Berlin: Gott hat Jesus verlassen

„Mein Gott, Herr Pfarrer!“ von René Pollesch – Regie René Pollesch, Bühne Hartmut Meyer, Kostüme Sabin Fleck

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken René Pollesch Volksbühne Berlin

Christine Groß und Benny Claessens und im Hintergrund Inga Busch und Sophie Rois – zurück an der Volksbühne. Foto Gordon Welters
Christine Groß und Benny Claessens und im Hintergrund Inga Busch und Sophie Rois – zurück an der VolksbühneFoto: Gordon Welters

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Der Boden der Volksbühne liegt schief. Hohe gelbe Wände umkleiden den Raum wie ein himmlischer Sandsturm. Das Saallicht ist noch an, da ertönt bereits Musik. Kurze Irritation, dann: Dunkelheit. „Oh mein Gott! Keiner da“, lauten die ersten Worte dieser Inszenierung – gesprochen von Sophie Rois, die nach sechs Jahren am Deutschen Theater nun an die Volksbühne zurückgekehrt ist. Sie betritt den dunklen Bühnenraum im langen Gewand mit einer Kerze in den Händen und spricht diese erste Zeile. Das Gesprochene ist nicht beliebig. Es ist ein Zitat. Ein Zeichen. In der Bibel heißt es: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, / bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? / Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; / ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe.“ (Ps 22, 2-3 EÜ). Im Angesicht des Todes zitierte Jesus Psalm 22, denn er sah sich von seinem Vater verlassen. Er sah sich von Gott verlassen. Das ist erstaunlich, sehr erstaunlich sogar – beinahe so erstaunlich, dass man vom Glauben abfallen könnte …so wie Jesus eben. Ist da keiner, der uns erlöst? Sind wir etwa ganz allein? Diese und ähnliche Fragen sind es, die René Pollesch an diesem Abend auf der Berliner Volksbühne hin und her wirft. Das Ergebnis der Jonglage: Womöglich ist Jesus der erste Atheist. Womöglich ist die Liebe das, was erst nach dem Tod Gottes in die Welt kam.

Als stoffliche Grundlage der Uraufführung dient Ingmar Bergmans Filmdrama „Licht im Winter“, in dem das Sujet eines von Gott und seinen Jüngern im Stich gelassenen Jesu eine künstlerische Vorlage findet. Das, was Pollesch in „Mein Gott, Herr Pfarrer!“ auf die Bühne bringt, zeichnet sich besonders durch eine bewusste Fluidität des Spiels aus: Zum einen springt der Text ab und an zwischen einem Erzählen aus der ersten Person und dem gesprochenen Dialog hin und her. Die Spielsituation changiert außerdem zwischen Traum und Realität der Figuren, sodass sich die verschiedenen Geschichten – versetzt mit Passagen aus Ingmar Bergmans Biografie – im Verlauf der Inszenierung einander zu überlagern beginnen. Zum anderen bespielen die Schauspieler:innen verschiedene Figuren gleichzeitig – davon zum Teil selbst verblüfft: „Wieso bin ich immer der Papa in Erinnerungen von Leuten, die ich gar nicht kenne?“, fragt Benny Claessens, der hier nicht nur (ohne vor dem Spiel mit Klischees zurück zu schrecken) eine hypochondrisch melodramatische Pastoren-Diva verkörpert, sondern eben auch den Papa im gemeinsamen Traum. Es entsteht eine Erzähl-Collage, die sich nicht um Stringenz bemüht, aber eben doch einzelne, sich kreuzende und verflechtende rote Fäden für das Publikum bereitzuhalten versteht.

Dort, wo sonst der Eiserne fällt, hängt an diesem Abend eine graue Plastikplane, die das Spiel in seinen wechselnden Ebenen separiert. Hinter dem zerknitterten Vorhang sitzen die Töchter Inga (Inga Busch) und Marianne (Christine Groß) auf einer hölzernen Tribüne mit blauen und weißen Drehstühlen und warten nur darauf, im gemeinsamen Traum mit ihrer Mutter Karin (Sophie Rois) emotional abzurechnen. „Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass du die Hölle für uns gewesen bist.“, werfen die Beiden ihrer Mutter zielgerichtet an den Kopf. Schuldzuweisungen: Das sind ja immer auch gute Gelegenheiten zur Inszenierung des privaten Opferkults. Herrlich genussvolles Selbstmitleid und hysterisches Weinen, das einfach Freude macht. Die psychologischen Mechanismen, die Pollesch hier sichtbar macht, lassen Gelächter durch die Reihen ziehen. Besonders Benny Claessens bringt dieses Motiv mit einer großen Portion schauspielerischen Könnens auf den Punkt. Wem hier ein Lachen über die Lippen kommt, erkennt sich vermutlich selbst in der Parodie – und das ist der Schlüssel zu diesem Humor; das ist, warum der Witz aufgeht.

Ungefähr 15 Minuten vor Schluss beginnt die Technik dann damit, Schritt für Schritt das Bühnenbild abzubauen. Doch der Abend ist noch nicht vorbei. Es ist noch genug Zeit für einen weiteren überaus gelungenen Auftritt des Mädchenchors der Sing-Akademie zu Berlin. In den Gewändern von Betschwestern und mit privatem Schuhwerk huschen die Engelsstimmen über die Bühne. Sie begleiten die Inszenierung mit glockenhellem Gesang, über den sich ganz sicher jedes Ohr im Saal gefreut hat. Der Einsatz des Chors liest sich neben all den Bergman Referenzen beinahe als ein weiteres Zitat aus dem eigenen Repertoire der Volksbühne: Ende März stellten Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina Sulaver in ihrer Uraufführung „Die Chor“ ebenfalls einen Jugendchor auf diese Bühne – eine Inszenierung, die ihrerseits mit Schleef- und Pollesch-Zitaten spielt. Wir blicken auf einen Strudel der Zitate, aus dem – so zeigt es uns Pollesch hier mit Bergman – auch Jesus nicht auszurechnen ist.

Erschienen am 8.6.2023

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