Neustart
Warnungen aus der Zukunft
Der Neustart am Stadttheater Gießen unter der Intendanz von Simone Sterr
Erschienen in: Theater der Zeit: Barbara Mundel – Stürzende Gegenwart (12/2022)
Assoziationen: Hessen Stadttheater Gießen

Der Gestus des Neustarts ist wohl unvermeidlich nach der zwei Jahrzehnte währenden Intendanz von Catherine Miville am Stadttheater Gießen. Die allerdings hat das Haus nicht einer betulichen Traditionspflege ausgesetzt, sondern das Stadttheater in produktivem Kontakt mit politischen und gesellschaftlichen Themen, darüber hinaus mit Stadtpolitik und Repräsentant:innen der Stadtgesellschaft gehalten. Und dass im Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Universität, das bis vor drei Jahren von Heiner Goebbels geleitet wurde, an erweiterten und alternativen Theaterkonzepten gearbeitet wird, wurde hier auch nicht ignoriert.
Der intensivere Bruch und der schwierigere Arbeitsauftrag folgen für Simone Sterr zu Beginn ihrer Intendanz wohl eher aus der Pandemie. Wie überall ging auch in Gießen ein nicht unbeträchtlicher Teil der Abonnent:innen erst einmal verloren, den Kampf ums Publikum gilt es aufzunehmen.
Die Eröffnung mit einer als „Demokratieprojekt“ charakterisierten Inszenierung, spartenübergreifend und additiv, traf auf ein gut vorbereitetes Publikum und bekam aus machtvollen nicht-theatralen Bereichen der Wirklichkeit überreichlich Brisanz geliefert. Der im Hongkong lebende Autor Pat To Yan hat in Abstimmung mit Regisseur Thomas Krupa die drei Stücke „Eine kurze Chronik des künftigen China“, „Eine posthumane Geschichte“ und „Überall im Universum Klang“ zu einem aspektreichen Triptychon zusammengefügt. Auch wenn der Titel der Uraufführung teilweise schon vergeben war, rechtfertigt die Dreierkombination doch die Verwendung dieses Terminus.
Krupa hält sich wenig damit auf, den Text zu entschlüsseln, er übersetzt ihn eher in unseren zentraleuropäischen Kulturkreis. Im Untergrund der drei Stücke brodeln Schmerz, Politik, Angst. Die Zerschlagung der Demokratie in Hongkong, gewaltförmig repressive Reaktionen der regierenden Partei auf ethnisch-religiöse Minderheiten verursachen eine ubiquitäre, gleichwohl schwer fassbare Bedrohung und also unabweisbare Realitätshaltigkeit des theatralen Textes. Pat To Yan sublimiert die Erfahrung der Repression in einem Textgebilde, das eher in die Zukunft der Menschheit als in die Gegenwart Chinas schaut. Und am Tag der ersten Bauprobe begann dann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Krieg erscheint plötzlich als fester Bestandteil einer humanen und posthumanen Geschichte.
Thomas Krupa hat mit Stefano di Buduo einen Theaterraum geschaffen, der mit Platzierungs- und Sehgewohnheiten bricht. Die weite Halle aus unbestuhltem Zuschauerraum, Bühne und Hinterbühne wird bei geschlossenem Orchestergraben als Fertigungshalle für ein bewegtes, multimediales Spiel genutzt. Publikum und Darsteller:innen unterscheiden sich oft erst auf den zweiten Blick, flanierende Zuschauer:innen werden mit Fragen konfrontiert, ein Streichquartett sitzt im Kreis. Nirgends entsteht die beruhigende Beschaulichkeit klassischer Arbeitsteilungen. Für „Eine kurze Chronik des zukünftigen China“ ist aus der Zukunft jemand (Der Außenstehende, Davíd Gavíria) gekommen, der Warnungen und beunruhigende Fragen in den Raum stellt. Es gibt Musik (Hannes Strobl, Michael Emanuel Bauer), die keine höheren Erregungszustände ansteuert. Jeder muss seinen Platz suchen und kann ihn jederzeit verändern. Das löst nicht nur Freiheitsgefühle aus, eher Irritation. Das Raumgefühl wird rundum von Stefano di Buduos großflächigen Videoinstallationen dominiert und in eine gleichförmig-stürmische Richtung voller Verkehrsströme und Motoren gelenkt. Im künftigen China, in der zukünftigen Welt ist offenbar vor allem dafür Platz.
Im zweiten Teil ist ein Computerspiel-Nerd vom Militär als Drohnenprogrammierer angeheuert worden. Sein Sohn ist ohne Po auf die Welt gekommen und will dieses bildlich schwer zu erfassende Handicap mit einem Cyber-Po kompensieren, was einen stark beschleunigten Alterungsprozess zur Folge hat. Alle sind und fühlen sich gestraft – aber wofür?
Im dritten Teil hat sich die aufgelöste Raumordnung umgekehrt und wieder verfestigt: Das Publikum sitzt auf der Bühne, das Spiel ist in den Zuschauerraum verlagert (was eine leider stark eingeschränkte Sichtbarkeit für das Publikum zur Folge hat). Es geht um eine Reise in die unendlichen Weiten posthumaner Dystopien. Aber gerade die bizarre Ferne und Abstraktion, die sich zwischen das Publikum und die Bewohner:innen eigentümlicher zukünftiger (oder paralleler?) Welten geschoben hat, erinnert daran, dass ohne humane Fantasieproduktion auch eine posthumane Geschichte vorerst nicht auskommt.
Der Anspielungsreichtum und die Kontinuitäten in der eigentümlichen Namensgebung des Personals in Pat To Yans Drama erschließen sich nicht ohne Weiteres. Brisanz gewinnt dieser Spielzeit- und Intendanzauftakt aus seiner wagnisreichen Exposition, die auf den Entzug von Selbstverständlichkeit abzielt. Es ist Zeit, Warnungen aus der Zukunft ernst zu nehmen.
Auch wenn der Science-Fiction-Spirit von Cyberspace und übermächtig werdender Künstlicher Intelligenz thematisch präsent ist, spitzt Pat To Yans Stück sich nicht auf Technikfeindschaft zu. Es meidet landläufiges Anprangern und fragt, welcher Platz den Menschen noch bleiben wird. Gleichwohl scheint die Gesellschaft in seinen Texten von unumgänglichen Normen entmündigt und autoritär geprägt.
Die Regie aber gibt dem Publikum die schwierige Aufgabe, den eigenen Platz selbst zu finden in einem Raum, der auf den ersten Blick altbekannt wirkt, aber vertraute Strukturen verloren hat. Es ist nicht nur der ferne Krieg, es ist eher der unabweisbar gewordene Gedanke, dass ein gelebter Zustand jederzeit in etwas Unerwartetes umschlagen kann, der das verunsichernde Grundgefühl dieser Aufführung ausmacht. Die zweite Premiere der Spielzeit im großen Haus blickt in der Stadt, in deren Umgebung Georg Büchner und Ludwig Weidig den „Hessischen Landboten“ schrieben, zurück auf vergangene revolutionäre Prozesse. „Dantons Tod“ hat kaum verheißungsvolle Ausblicke zu bieten. Die Demokratie aber steht immer infrage. Verlieren wir sie und die mit ihr lieb gewonnen Lebensgewohnheiten nicht aus dem Blick. //