Protagonisten
Das Jahr des Eismanns
Raus aus dem Schneckenhaus des Ichs – Neue Romane von Ferdinand Schmalz, Roland Schimmelpfennig, Rebekka Kricheldorf und Michel Decar
Assoziationen: Akteure
Ach, die Sonne, „diese gelbe Sau“. Scheint und scheint da so gnadenlos von oben herab, als wolle sie das, was auf Erden so lebt, mit kräftigen Hieben erschlagen. Voll drauf auf die Köpfe der Menschen, Materie, die auf Materie trifft, denn Licht besteht halt nicht nur aus Wellen, sondern auch aus Teilchen. Und so bewegen sich die Menschen in Ferdinand Schmalz‘ soeben erschienenem Debüt-Roman „Mein Lieblingstier heißt Winter“ seufzend und ächzend durch ihr Leben. Alles ist Körper in dieser Welt. Menschenkörper, Tierkörper, Wachkörper, Gesellschaftskörper. Selbst die Wetterphänomene, diese hundstagigen Phasen im Sommer, verklumpen sich zu einer Substanz, bilden gallertartige Strukturen, durch die sich die Bewohner dieser mittelgroßen Stadt an der Donau schieben wie durch eingedickten Quark. Ach Mensch, ach Körper. Denn wer einen hat, der kennt auch den Schmerz. Den Rückenschmerz, den Zahnschmerz, den Kopfschmerz, den selbst Tabletten und ergonomische Stühle auf Dauer nicht wirklich bekämpfen. Alles leidet, auf die ein oder andere Art, leidet am Gegenüber oder auch schlicht am Leben selbst, das, schwupps, kaum begonnen, so schnell schon endet.
Das klingt ziemlich düster, ist aber in der Welt von Ferdinand Schmalz kein Grund zur Verzweiflung. Im Gegenteil: Im Reigen der hier besprochenen vier Romane, in denen Autorinnen und Autoren, die vorrangig – zumindest bislang – als Dramatikerinnen und Dramatiker bekannt waren, über die Widrigkeiten des Lebens nachdenken, ist sein Personal, wenngleich sogar im Rudel mit dem Tod konfrontiert, das zuversichtlichste. Wie das?
Da ist zunächst Schmalz‘ Hauptfigur: Franz Schlicht, ein Name wie sein Charakter, jedenfalls sollen alle, die ihm begegnen, dies glauben. Irgendetwas scheint passiert zu sein in seinem früheren Leben, von einem Schicksalsschlag ist da die Rede, doch nach außen hin ist keine „Verschlagenheit“, keine „Listigkeit“ zu sehen. Dass Schmalz all dies erklären muss, inklusive der Rückführung auf seinen Namen („So wirkt er nun, ganz seinem Namen getreu, geradewegs die Schlichtheit in Person.“), ist nicht unbedingt vonnöten. Auch nicht, dass dieser Tiefkühllieferant ein Klimaleugner sein muss. Dennoch steckt in dieser Figur, wie auch in vielen anderen dieses Romans, eine ganz eigene, berührende Poesie. Als Tiefkühllieferant unterwegs mit einem LKW voll gefrorenen Materials, ist er der heimliche Herrscher über den Tod, oder besser gesagt: über die unser Dasein nach hinten hinaus begrenzende Zeit. Schockfrosten – ist das nicht ein für Tage, Stunden, gar Monate ermöglichter Stillstand? Sind nicht all die Schnitzel, Pizzen und Knödel, einmal schockgefrostet, Körper, die so schnell nicht verwesen? So dachte es sich zumindest der schon ernstlich erkrankte Doktor Schauer, als er dem verdutzten Schlicht, eine Packung Rehragout in der Hand, vor seiner Tiefkühltruhe unten im Keller einen teuflischen Plan auftischt. Wohin mit dem eigenen Körper, wenn er zum Leben nicht mehr taugt?
Die Nacht, in der das Leben zersprang
Auch dem Berliner Drogenfahnder Tommy in Roland Schimmelpfennigs im Frühjahr erschienenen Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ kommt urplötzlich ein Körper in die Quere, kein alter, erkrankter, sondern ein junger, schmächtiger. Läuft ihm bei voller Fahrt auf dem Kottbusser Damm vor das Auto. Es war ein Noteinsatz gewesen. Zwischen Kreuzberg und Neukölln hatten zwei Männer das Feuer auf einen Polizeiwagen eröffnet. Der Drogenfahnder war zur Verstärkung herbestellt, das Tempo war hoch, die Sirene laut – dennoch stand der Junge plötzlich da. Sah ihn „für den Bruchteil einer Sekunde mit fassungslosen Augen an, da lebte er noch, und dann flog er über die Motorhaube“.
Für Tommy geht in diesem Moment das bisherige Leben zu Ende. Es sind Sekunden, die sich nicht umkehren lassen. Bilder, die nicht verlöschen. Ein Mensch, der plötzlich kein Mensch mehr ist. Ein paar Zuckungen noch. Dann nichts mehr. Nur ein Körper. „Das war die Nacht“, sagt Tommy, „in der mein Leben zersprang … Alles ergab von einem Tag auf den anderen keinen Sinn mehr.“
Mit „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ hat Roland Schimmelpfennig einen eindringlichen Roman über einen Absturz geschrieben. Es ist der Sturz aus einem Leben, dessen Sinn man Momente zuvor zumindest noch erahnen konnte – und zu dessen Ordnung dieser Polizist irgendwie beitrug. Doch die Linie zwischen Chaos und Ordnung ist äußerst fragil. Ferdinand Schmalz lässt aus diesem Grund einen ganzen Putztrupp aufmarschieren: Es herrsche Chaos, sagt auch Putzmann Harald, der tagtäglich dagegen anschrubbt, was der Menschenkörper so versaut. „Chaos, das zu einem rüberschwappt“, ist der Fernseher erst einmal an. Doch putzen allein hilft da leider nicht viel weiter. Daher tritt auch hier ein Inspektor auf den Plan. Ermittelt, was das Zeug hält, denn die Todesfälle reißen nicht ab. Das sind die Momente, sagt der Inspektor stolz, in denen „das Mögliche sich in das Wirkliche wird stürzen und er, der Herr Inspektor, dann für eine Ordnung wieder sorgen könnt. Weil‘s das ist, was wir doch am Ende des Tages alle wollen, unser kleines Stück ordentlich sortierte Wirklichkeit.“
In diesem Sinne ist auch Roland Schimmelpfennigs Roman keine bloße „Whodunit“-Story, wie der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sträflich verkennt. Es ist der Versuch, die durch den Einfall des Möglichen in das Wirkliche zerrissene Textur des eigenen Lebens wieder zu flicken. Klar, am Anfang taucht auch hier eine weitere Leiche auf, eine junge Frau, die während einer sommerlichen Techno-Party im Hochzeitskleid und mit Rosen im Haar auf dem Landwehrkanal treibt, als wäre sie soeben einem Nick-Cave-Video entschlüpft. Niemand achtet auf die Tote, nur dem Drogenfahnder fällt sie auf. Nachdem er sie an Land gezogen hat, ist er von ihrem Schicksal wie besessen. Wer ist diese Frau? Wurde sie umgebracht? Was bedeutet das geheimnisvolle Tattoo auf ihrem Rücken, das großflächig etliche Narben verdeckt?
Tommys Auftrag aber, der ihn dazu verleitet, dem Fall nachzugehen, ist kein staatlicher mehr. Der Ermittler ist nach dem Unfall mit dem Jungen längst suspendiert, mittlerweile gar selbst Teil der städtischen Kriminalität. Sein Impuls ist vielmehr existenzieller Natur, ein hilfloser Versuch, die Bruchstücke, in die sein Leben zerbarst, wieder zu ordnen. Er hatte dort auf dem Kottbusser Damm die Grenze gesehen, den Übergang zwischen gerade noch lebend und plötzlich schon tot. Fortan existierte für ihn alles gleichzeitig. „Alles ist richtig und alles ist falsch.“ Ein Zustand, der dem Ex-Fahnder nur im Rausch erträglich erscheint.
Ach je, also wieder ein Berliner Drogenroman? Tatsächlich wird in diesen durchwachten Tagen und Nächten der Erzählzeit eingeschmissen, was nur geht. MDMA, Ketamin, Speed. Die Linie zwischen Tag und Nacht ist philosophisch gemeint. Es ist aber auch die Linie auf dem Tisch, die Koks-Line, die helfen soll, den Zustand der Gleichzeitigkeit – Nächte, die sich in Tage verirren, Menschen, die hellwach und zugleich todmüde sind – zu ertragen. Verzeihen muss man Schimmelpfennig bei seiner langen Reise durch die Berliner Nacht so manch einen Schwenk in den Ethnokitsch. Die Auftritte eines russischen Mystikers oder einer feuerspuckenden Inderin wirken, als wären diese Figuren einer Fantasy-Party im Ritter Butzke entlaufen. Aber vielleicht sind sie das auch. Je tiefer jedenfalls sich Schimmelpfennigs Ex-Cop in die Drogen- und Partyszene begibt, desto unwahrscheinlicher werden die Bewegungen der Personen in Zeit und Raum. Begegnungen finden statt, die selbst der Zufall in dieser Dichte (und in dieser Großstadt) nicht hätte herbeiführen können. Ein seltsam schwebender Eindruck entsteht, als wäre alles von fremder Hand gesteuert oder eben von einem traumatisierten und zugedröhnten Hirn erträumt.
Anders als bei Schmalz, der durch seine dialektal gefärbte Sprache nicht nur von Körpern erzählt, sondern auch Sprachkörper erschafft (im Grunde ist der ganze Roman nahezu haptisch ertastbar), setzt Schimmelpfennig auf einen trockenen Ermittlerton, der anfangs verdächtig nach Tatort-Sprech klingt, zunehmend aber in seinem faktischen Scannen der Welt den Nachhall eines viel trockeneren Geräusches imitiert: den Aufprall eines jungen Körpers auf der Straße. Alles geschieht. Ob man will oder nicht. Schmalz‘ Weltbeschreibung hingegen ist ein echter Rausch literarischer Bilder. Da sehen wir Erzkonservative wie den Ministerialrat Kerniger ein Gulasch essen, und zwar nicht irgendeines, sondern jenes, das der Leopold gerne kocht. Angerührt in einem Kessel, in dem sich vom Vortag die Reste noch befinden, sodass Neu und Alt aufs Kulinarischste dialogisieren, eine Traditionslinie bewahrend, die bis zu Napoleon reicht, denn der Urtopf stand schon beim Sieg bei Aspern auf dem Feuer.
Auf vielen Ebenen ist Ferdinand Schmalz‘ Roman, der mit einer Szene in einem stillgelegten Dinosaurierpark beginnt, ein fröhliches, skurriles Spiel mit der Zeit, mit uralt und brandneu, Geschichte und Gegenwart, Werden und Vergehen, ohne jedoch den existenziellen Schrecken zu berühren, von dem Schimmelpfennigs Protagonist so hart getroffen wurde. Diese Temperiertheit teilt das Buch mit zwei anderen Romanen, die in diesem Frühjahr erschienen. Michel Decar hat sich mit seinem zweiten längeren Prosawerk „Die Kobra von Kreuzberg“ wieder einmal ins rasante Genre der Räuberklamotte begeben. Beverly, Tochter eines berühmten Einbrecher-Clans, will sich durch einen Supercoup von ihrer Familie emanzipieren. Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor soll es sein. Aber wie kommt man da ran?
Auf der Folie dieser Banditengeschichte – bereits sein Debütroman „Tausend deutsche Diskotheken“ zitierte eifrig aus dem Kriminalistenmilieu – erzählt Decar von einer Welt auf dem Kopf, in der die Verkehrsbetriebe die wahren Verbrecher sind, während die Verbrecher Pizza mit grünem Spargel und Pistazien bestellen. Das ist mal mehr, mal weniger witzig, zumal Decar sich dabei nicht nur – natürlich mit voller Absicht – allerlei Klischees bedient (der Einbrecherclan ist selbstverständlich polnisch und trägt kunterbunte Adidas-Trainingsanzugs-Variationen); er scheint auch im offenen Wettstreit mit seinen Banditen zu liegen, was Einfallsreichtum und Aufschneiderei angeht. Eine Berliner Straßenszene liest sich in diesem Sinne bei ihm so: „Sport- und Kinderwagen italienischer Fabrikation rasten über den Gehweg. Sven, 11 Jahre, schürfte sich beim Basketball das Knie auf. Waffenfabrikant Flottwell, 61 Jahre, verschickte Sturmgewehre nach Somalia. Scheinwerfer kreisten zwischen den Hochhäusern am Bahnhof Zoo, Rotorblätter schnitten durch die Luft. Polizeisirenen im Nebel, schrille Schreie im Regen, eine Verhaftungswelle überzog das Tiergartenviertel, korrupte Polizisten ermittelten im Nirgendwo.“ So geht es dahin. Dem nächsten Sprachcoup dicht auf der Spur.
Immerhin, ließe sich sagen, gibt es in Decars Roman überhaupt so etwas wie ein Eintauchen in Szenen und Milieus einer Großstadt, im Gegensatz zu Rebekka Kricheldorf, die sich, in ihren Dramen eine äußerst scharfe Beobachterin, in ihrem Romandebüt „Lustprinzip“ damit doch etwas schwer tut. Wir befinden uns in den neunziger Jahren – wo auch sonst, wenn es um Krisengeschichten aus der Berliner Partyszene geht; aber gut, es war ja auch die Partyzeit der Autorin. Die Stadt, heißt es im Klappentext, liege wie eine Verheißung vor einem da, „offen für alle“, ausgenommen Larissa. Die Studentin, augenscheinlich an einer sozialen Phobie leidend, schafft es nicht einmal, die Uni zu betreten, geschweige denn das Leben. Einzig das Partyleben hält sie auf Trab, Sex and Drugs, wie man es kennt. Es mag an dem verschlossenen Charakter ihrer Protagonistin liegen (der Roman ist in der Ich-Perspektive verfasst), dass die Milieus, die Kricheldorf beschreibt, seltsam eindimensional bleiben. Durch den Bezirk Friedrichshain schleppen sich „freudlose Ossis (grau)“, die aussehen „wie Fotos in alten Alben, die längst keiner mehr durchblättert … Der Säuferanteil ist groß … Ein großer Graben aus Unverständnis für das Lebenskonzept des jeweils anderen trennt sie.“
Letzteres ließe sich auch in Bezug auf Kricheldorfs Larissa konstatieren. Wer derart distanziert seine Umwelt taxiert, jenseits auch eines Gespürs für gesellschaftliche Prozesse (die Wende), muss sich eigentlich nicht darüber wundern, das er das „Schneckenhaus“ (Schmalz), das wir Ich nennen, nicht verlassen kann. Die Welt mag chaotisch und schmerzvoll sein. Letztlich aber, sagt der Feuerwerker Fabian bei Ferdinand Schmalz, lasse sich die Wirklichkeit nur in ihren Eigentümlichkeiten erkennen. Wer die im Blick hat, steht trotz Chaos voll im Leben. //
Ferdinand Schmalz: Mein Lieblingstier heißt Winter. S. Fischer, Berlin 2021, 192 S., 22 EUR
Roland Schimmelpfennig: Die Linie zwischen Tag und Nacht. S. Fischer, Berlin 2021, 208 S., 22 EUR.
Michel Decar: Die Kobra von Kreuzberg. Ullstein Verlag, Berlin 2021, 208 S., 22 EUR.
Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, 240 S., 20 EUR.