Theater der Zeit

Auftritt

Frankfurt am Main: Der volle Raum

Künstlerhaus Mousonturm: „Under Bright Light“ von Forced Entertainment. Regie Tim Etchells, Bühne Richard Lowdon

von Shirin Sojitrawalla

Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)

Assoziationen: Hessen Theaterkritiken Freie Szene Künstlerhaus Mousonturm

Arbeits- und Rampenlicht: „Under Bright Light“ von Forced Entertainment am Mousonturm Frankfurt. Foto Hugo Glendinning
Arbeits- und Rampenlicht: „Under Bright Light“ von Forced Entertainment am Mousonturm Frankfurt.Foto: Hugo Glendinning

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Gegen Ende der Performance tanzt Robin Arthur mit einer Stehleiter, wiegt sie in seinen Händen wie eine Frau, und man könnte schwören, die Szene schon mal in einem Charlie-Chaplin-Film gesehen zu haben. Der Slapstick und das habituell Überforderte sind auch der neuen Performance des britischen Kollektivs Forced Entertainment eingeschrieben. Diesmal verlieren sie dabei, wie schon in ihrem 2018 in Frankfurt am Main urauf­geführten Stück „Out of Order“, kein Wort.

Die Bühne markiert ein Quadrat aus grünem Kunstrasen, begrenzt von einigen weißen Stellwänden. Robin Arthur, Nicki Hobday, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor treten in Blaumännern und schwarzen Laufschuhen dahinter hervor. Mit ihnen auf die Bühne kommen vier Stühle, acht Kartons, ein ­Podest, eine Leiter und ein Tisch. Die Performer:innen aus der Arbeiterstadt Sheffield tragen die Dinge von hier nach dort, von einer Ecke in die andere, stapeln sie mal vorne, türmen sie mal hinten auf, laufen zügig oder hastig, quer oder diagonal zu den Seiten des Rasenstücks. Dabei rempeln sie sich nicht an, obwohl sie meist stur geradeaus ­blicken, Gesichter der Arbeit ziehen.

Dazu ertönt ohrenbetäubender Lärm in einer Mischung aus Jahrmarktsmusik und Presslufthammergewummer (Komposition: Graeme Miller). Ein Gong ertönt wie ein Weckruf. Nach zehn Minuten versammelt sich der Trupp um den in einer Ecke gelagerten Kram und gibt sich seiner Erschöpfung hin. Dann geht es wieder von vorne los, die Musik ändert sich, die Gänge der Bühnenarbeiter:innen auch. Die Gedanken des Publikums wandern mit, manche im Saal beginnen zu lachen, was eher eine Übersprungshandlung als dem Geschehen geschuldet ist. Bis auf winzige Ausnahmen gibt es nicht viel zu lachen, es ist ein trauriger Abend, ein hoffnungsloser, eine Vergeblichkeitsstudie, ein Untertagsblues. Die Sisyphose auf der Bühne erinnern an Amazon-Mitarbeiter:innen oder Zalando-Boten, die sich kameraüberwacht abhetzen. Mit ihren konformen Kartons in Händen könnten es aber auch gerade gefeuerte Lehman-Brothers-Banker sein, die ihr ausgelaugtes Selbst nach Hause tragen. Die sechs auf der Bühne erschöpfen sich nach allen Regeln der Kunst, manchmal fallen sie um oder halten ein Nickerchen. Später kollabieren sie regelrecht. Proportional zu ihrer Müdigkeit vermehren sich die Dinge auf der Bühne, auf einmal sind es drei Leitern, acht Stühle und zahllose Kartons. Die Musik schwillt dementsprechend an, die Schläge darin werden dumpfer, spitze Saxofonklänge zerschneiden die zu delirieren beginnende Luft. Dann wird der Ton rauer, tinnitusnervender, aggressiver, die Ordnung der Dinge ist dahin, Kartons fliegen durch die Luft wie Kissen in einer Kinderzimmerschlacht. Das zuerst noch traumverloren emsige Treiben weicht einer schwer atmenden und mit letzter Kraft absolvierten Chaos-Parade unter gnadenlosem Licht. Aus Peter Brooks „Der leere Raum“ macht Forced Entertainment einen vollen, zugestellten Raum. Theater in Reinform: Leute gehen durch den Raum, während andere ihnen zusehen. „Under Bright Light“ meint gleichermaßen das ­Arbeits- wie das Rampenlicht.

Die Blaumänner zitieren die Arbeitswelt und zielen auf den permanenten Optimierungswahn unserer Tage, unter dem Diktum eines permanenten „Schneller, Höher, Besser“. Nicht einmal der Humor bietet eine Fluchtmöglichkeit, wie noch in „Out of ­Order“, das dem Nicht-Funktionieren oft ­komisch beizukommen versuchte. Diesmal ergibt sich 75 Minuten lang kein gangbarer Ausweg. In seiner absurden Alternativlosigkeit und seiner Feinnervigkeit erinnert das an Samuel Becketts „Quadrate“. „Under Bright Light“ spinnt seine formvollendete Choreografie verrückt weiter. Am Ende liegen die Gegenstände auf einem Haufen wie achtlos abgestellter Sperrmüll, während die Ar­bei­ter:innen sich vom Acker machen. Zurück bleibt ein angespanntes Publikum und die bange Frage: Soll das unser ganzes Leben gewesen sein? //

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