Report
Neue Blickwinkel
Grünschnabel-Preis beim FIGURA Theaterfestival 2022
Zu dem im Rahmen des Figura Theaterfestivals zum 10. Mal ausgeschriebenen „Grünschnabel“-Förderpreis für junges Figurentheater des Kantons Aargau waren fünf Produktionen junger Künstler*innen aus vier europäischen Ländern eingeladen. Und obwohl am Ende nur eine Inszenierung den Preis nach Hause nehmen konnte, überzeugten alle Inszenierungen durch künstlerische Qualität, Einfallsreichtum und Mut zur Innovation, wie die Jury in ihrer Laudatio zu Recht ausführte.
von Hansueli Trüb
Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)
Assoziationen: Performance Asien Schweiz Berlin Baden-Württemberg Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Verspielte Materialerforschung
Ein schlichter, weißer Rundhorizont. Zwei Spielerinnen (Sarah Chaudon, Clara Palau y Herrero vom Stuttgarter Tangram Kollektiv) sitzen am Boden und beobachten die Zuschauer*innen, die die Ränge füllen. Ein Kartonhorizont mit einer Häuserkulisse steht bereit. Kaum wird’s dunkel, als wir auch schon in die Schattenstadt eintreten und uns plötzlich in einem Zimmer befinden. Eine Lampe wird angezündet. In der Realität? Im Schatten? Die beiden Frauen trinken Tee, bewegen sich im Raum, heben eine Tasse an – der Schatten aber bleibt stehen. Die ersten Kinder kichern. Der Löffel, der zum Mund geführt wird, ist plötzlich ein Fisch, der davonschwimmt und Schwups! – zum Flugzeug wird. Die Kinder kugeln sich vor Lachen, wenn das kleine schwarze Männchen aus der Lampe lange Beine wie ein Schatten bekommt, wenn die Spielerin plötzlich zwei, drei Schatten hat, wenn sie ihren eigenen Schatten auf die Bühne zerrt und dieser leibhaftig vor ihr steht. Es ist eine Freude, den beiden Spielerinnen zuzusehen, wenn sie beobachten, plötzlich stutzen, wenn sie mit dem Schalk eines Kindes den Schatten kitzeln und ihn gleich selbst verwenden, um ihr eigenes Schattenbild zu überlisten. „Schattenwerfer“ ist Spielfreude pur – und gleichzeitig eine fröhliche Entdeckungsreise für Kleine und Große in das Reich von Licht und Schatten.
Mit einer ungewöhnlichen Kombination von Materialien arbeitet auch die Inszenierung „O wie kleiner Otik“ des jungen Prager Künstlerkollektivs TMEL / Drama Label: Alte Leiterplatten, Kondensoren, Thyristoren treffen hier auf eine Klangwelt selbst erzeugter Töne und Rhythmen. Basis der Inszenierung ist die berühmte tschechische Erzählung „Kleiner Otik“, in der ein aus einem Holzstumpf geschnitztes Kind in einem Anfall von Heißhunger erst die Eltern und dann das ganze Dorf verschlingt. Das Spiel beginnt mit drei einfachen Objekten auf einem niedrigen Spieltisch, die sofort als Figuren lebendig werden, einen Rhythmus klopfen, eine Parade von Kondensor-Soldaten abnehmen. Dann plötzlich ein Drama: Ein Soldat fehlt, bringt die Ordnung durcheinander, Chaos bricht aus. Nun baut sich eine Großstadt aus Leiterplatinen auf, ein ebenso technischer Storch kreist darüber, lässt Kinder durch den Schornstein fallen. Im Innern der Häuser küssen sich Widerstände, beginnt elektronisches Leben. Die drei Performer agieren ohne Worte, erzeugen aber alle Geräusche selbst. Und das ergibt immer wieder interessante Effekte, etwa wenn die Klänge der Großstadt aus diesen Leiterplatinen ertönen, als ob es Radiosender in verschiedenen Sprachen wären. Doch leider bleibt die Story wenig verständlich; die Dramaturgie des Stücks wirkt verschwommen und etwas beliebig. Schade, denn die Grundidee der Inszenierung könnte zu einer explosiven Mischung als Metapher für unsere kollabierende Welt werden.
Erfahrungsräume
In „Heimat Neuhof: Panorama“ begibt sich der in den Niederlanden ausgebildete Performer Silas Neumann auf Spurensuche in seine Familiengeschichte. Einzeln und sehr persönlich führt er die Besucher*innen in den Raum, in dem ein zwölfeckiges Kaiserpanorama steht, ein aus Breslau stammendes optisches Medium aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, in dem mehrere Menschen gleichzeitig durch Gucklöcher wechselnde Bilder in stereoskopischer Qualität sehen konnten. Nun sitzen die Zuschauer*innen rund um dieses Holzgebäude, blicken durch die Löcher auf (filmisch nachproduzierte) Bilder. Wald, ein über den Boden robbender Plastiksoldat, alte Fotos, ein kleines Dorf, Textfragmente, Kriegssituationen, Gesichter aus dem Zweiten Weltkrieg. Basis sind die Erzählungen von Neumanns Großmutter, die aus Pommern fliehen musste, und Geschichten über den Großvater, der noch lange nach Kriegsende im Wald alte Kollegen mit hochgerecktem Arm begrüßte. Gemeinsam mit den Besucher*innen macht sich Neumann auf den Weg in die Vergangenheit, geht den Fluchtweg der Großmutter zurück bis in ihre alte Heimat Neuhof. Er spricht dort mit heutigen Bewohner*innen, mit alten Menschen, die sich gerade noch an die Zeit von damals erinnern mögen. An Ende wird Neumann selbst im Innern des Panoramas sichtbar, wird Eins mit den auf sein Gesicht projizierten Bildern seiner Vergangenheit. Eine eindrückliche, berührende, sehr persönliche Reise in eine fremde Heimat mit Mitteln, in denen sich historische mit aktuellen Techniken ganz selbstverständlich verbinden.
„Kaffee mit Zucker?“ – auch die Inszenierung des Teams um die Berliner Künstlerin Laia RiCa reicht zurück in eine Vergangenheit, deren Spuren bis in die Gegenwart hineinführen. Zum Geräusch und Duft von blubberndem Kaffee empfängt die in El Salvador geborene Performerin Laia Ribera Cañénguez charmant das Publikum, erzählt von ihrer Herkunft, malt ihren Heimatkontinent mit Kaffeepulver auf ein Papier, projiziert ihn auf den Hintergrund, löst das Bild im Wasser auf. Ein ganzer Sack Kaffeebohnen wird auf eine horizontale, im Raum hängende Membran – oder Weltkarte? – geschüttet. Man riecht den Kaffee, hört ihn auf der Membran, sieht ihn aus allen Perspektiven, er knirscht unter den Sohlen oder zwischen den Zähnen, man kann ihn sogar während einer kurzen Pause trinken. Aus Zuckerwatte entsteht schwebend eine weiße Maske und Spielfigur. Nach und nach weben sich Texte und filmische Fragmente (aus „Die Zivilisationsbringer“ von Uli Stelzner und Thomas Walther) über koloniale Produktionsweisen des Kaffeeanbaus in Guatemala in die Performance ein. Das Bild der Performerin schiebt sich in dokumentarische Filmaufnahmen und wird eins mit den Portraits indigener Frauen. Die anhaltende Ausbeutung der indigenen Bevölkerung, das brutale Machtgefälle zwischen den Industriestaaten des globalen Nordens und den Ländern des globalen Südens wird in diesen Bildern schmerzhaft präsent. Zurück bleibt nach dieser rasanten „dekolonialen Materialperformance“ – von der Jury zu Recht mit dem „Grünschnabel“-Preis bedacht – ein ebenso begeistertes wie nachdenkliches Publikum.
Die iranische Künstlerin Sayeh Sirvani, Absolventin der ESNAM in Charleville-Mézières, beschäftigt sich in „L’ivresse des profondeurs“, mit Scheherazade, jener Figur aus „Tausendundeine Nacht“, die aus Angst, getötet zu werden, jeden Abend ihre Geschichte weitererzählt. Sirvanis Scheherazade stammt aus den Tiefen des Meeres, ist eine Nixe, die vor dem mit Öl verpesteten Wasser ans Land fliehen will.
Die geheimnisvolle Figur, die singend und ihre Mythen erzählend aus dem Dunkel erscheint und von innen heraus leuchtet, ist wandelbar. Sie trägt ein leuchtendes Kind wie einen Fötus unter ihrem Kleid, verwandelt sich von der Nixe in einen Menschen, spricht in verschiedenen Sprachen und erzählt ihre nie endenden Geschichten in unterschiedlichen Gestalten, bleibt aber dennoch immer dieses unfassbare Wesen.
Vieles bleibt in dieser Inszenierung in der Schwebe, der Sinn im Verborgenen. Man ahnt, dass die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist, dass sie immer weiter geht, dass wir im Erzählen das Ende – auch unserer Zivilisation – hinauszuzögern versuchen. Ob das gelingen wird? – www.figura-festival.ch