Theater der Zeit

III. Arbeitsfelder

Auch das Theater kann zum Gefängnis werden

Armando Punzo im Gespräch mit Nicole Gronemeyer

von Armando Punzo und Nicole Gronemeyer

Erschienen in: Lektionen 5: Theaterpädagogik (10/2012)

Assoziationen: Europa Akteure Theaterpädagogik

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Armando Punzo, welcher Weg hat Sie zum Theater geführt?
Ich habe an der Universität von Neapel Für ein armes Theater von Jerzy Grotowski gelesen. Danach habe ich gesagt, ich werde Theaterregisseur. Die Studenten an den Universitäten waren damals stark politisiert, viele meiner Freunde waren politisch engagiert. Mich hat das nicht sonderlich interessiert, es gab viele Diskussionen, aber nichts passierte wirklich. Doch dann habe ich dieses Buch gelesen und wusste, dass ich Theater machen muss.

Was hat Sie an den Ideen von Grotowski so nachhaltig beeinflusst?
Grotowski, aber auch die gesamte künstlerische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Leute geschockt, hier passierte etwas, was sich nicht mehr allein an bestimmten Inhalten festmachen ließ, hier fand etwas völlig Neues im Denken, in der Wahrnehmung statt. Heute dagegen erleben wir eine Zeit der Restauration, bei aller ausgefeilter Technik gibt es keine wirklichen Ideen. 

Wie kamen Sie dann dazu, eine Theaterkompanie, die Compagnia della Fortezza, im Gefängnis von Volterra zu gründen?
Nach Volterra bin ich 1983 gegangen, um mit einer Gruppe, die sich um Grotowski gebildet hatte, Theater zu machen. Gegründet hatte sich diese Gruppe ursprünglich während eines paratheatralischen Experimentes mit Grotowski auf Haiti, wo er auf der Suche nach traditionellen Spielweisen war. In Volterra hatte Eugenio Barba eine Sitzung der ISTA (International School of Theatre Anthropology) durchgeführt, nach deren Ende einige Teilnehmer der Gruppe, die auch in der Gruppe Grotowskis gearbeitet haben, in Volterra blieben und die internationale Gruppe „Avventura“ gründeten. Ich war aus Neapel gekommen, um an einer Arbeitssitzung teilzunehmen, habe mich aber entschieden, etwas länger zu bleiben. Nach der Auflösung der Gruppe blieb ich in Volterra und gründete den Verein „Carte Blanche“, als dessen Sitz ich, wie zuvor schon die Gruppe „Avventura“, das Teatrino di San Pietro wählte. Es liegt direkt gegenüber dem Gefängnis. Als ich dies eines Tages anschaute, kam mir in den Sinn, dass es dort viele Leute gibt, mit denen ich arbeiten könnte. Da entschied ich mich, ein Projekt über Theater im Gefängnis vorzuschlagen. 1988 haben wir angefangen und sind noch immer da.

Warum haben Sie nie an einem normalen Theater mit professionellen Schauspielern arbeiten wollen?
Ich wollte in keiner normalen Produktion oder mit dem Ensemble eines Theater arbeiten. Alles, was ich um mich herum sehen konnte, war für mich nicht interessant. Ich wollte bei null anfangen und meinen Weg finden, ich wollte eine neue Art des Theatermachens entdecken. Als ich in das Gefängnis von Volterra kam, traf ich dort auf Leute, die keine Kultur hatten, die nicht Künstler sein wollten. Ich habe den Süden Italiens wiedergefunden. Ich konnte hier mit Leuten, die nichts zu tun hatten mit Theater, Kunst oder Kultur, völlig neu starten. Also fing ich an, mit den Gefangenen zu arbeiten. Ich blieb von morgens bis abends im Gefängnis. Am Anfang war es schwierig, die Gefangenen davon zu überzeugen, dass ich es interessanter finde, mit ihnen als mit professionellen Schauspielern zu arbeiten. Sie fragten mich, warum ich eigentlich den ganzen Tag mit ihnen verbringen will. Ich sagte ihnen, dass ich kein Psychologe oder Therapeut bin, dass ich davon auch nichts verstehe, sondern dass es mir um meine Idee von Theater geht. Ich habe immer wieder mit ihnen gesprochen und erklärt, was ich herausfinden will. Ich sagte ihnen, wenn ihr nicht interessiert seid, sagt es mir, dann gehe ich. Es hat zwei Jahre gedauert, bis sie angefangen haben zu verstehen, aber dann gefiel es ihnen.

Sie sind wirklich jeden Tag ins Gefängnis gegangen, um mit den Gefangenen zu arbeiten?
Den ersten Tag, den ich ins Gefängnis kam, waren nur Neapolitaner anwesend. Alle anderen Gruppen, Sizilianer oder Sardinier, schauten sich das an und sagten, ach, nur die Neapolitaner können so einen Unsinn machen. Sie wussten nicht, dass ich aus Neapel kam, aber als sie es erfuhren, half es mir. Von Anfang an habe ich versucht, eine Kompanie zu gründen, aber es dauerte sehr lange, eine gute Beziehung zu den Gefangenen zu haben, und auch, mit den Institutionen zu kämpfen, denn viele Leute waren gegen dieses Gefängnis und das Projekt. Heute ist Volterra eine offene Institution, aber am Anfang war es eines der schlimmsten Gefängnisse, abgeriegelt und fürchterlich. Aber auch heute noch, 24 Jahre später, ist es nicht einfach. Jeden Tag müssen wir darum kämpfen, jeden Tag gehe ich ins Gefängnis, um mit den Gefangenen zu arbeiten, um mit ihnen zu sprechen und um Ideen für neue Produktionen zu finden.

Wie sieht die Vorbereitung für eine neue Produktion aus?
An Hamlet (2010) habe ich zwei Jahre mit den Gefangenen gearbeitet. Erst in den letzten zwei Monaten sind noch andere für Bühne und Kostüme dazugekommen. Viel Arbeiten entstehen mittlerweile auch als Koproduktionen, mit denen wir durch die Theater und Festivals in ganz Italien touren. 

Wie würden Sie Ihre Arbeitsmethode beschreiben? Was passiert während dieser zwei Jahre?
Da es keine professionellen Schauspieler sind, arbeiten wir normalerweise nicht mit Dialogen. Im italienischen Theater geht es viel um Betonungen, um richtiges Sprechen. Der Schauspieler führt seine Arbeit aus, er weiß, was er tun muss, aber dabei entsteht nicht viel. Alles geht um Handlung, das Finden einer Figur, eines Konflikts, doch das ist weit weg von dem, was das Publikum bewegt. Den Gefangenen fehlt diese Form von Ausbildung, deshalb interessiert es mich, mit ihnen zu arbeiten. Ich gebe ihnen nie Worte vor, die sie aufsagen sollen, sondern wir lesen zunächst einmal die Texte. Nehmen wir Don Quichote als Beispiel: Die Gefangenen sind nicht gebildet, sie waren nicht in der Schule, sie wissen nichts. Trotzdem wissen sie etwas über ihn und ich möchte mit dieser Idee, die sie im Kopf haben, diesem Image arbeiten und es auch verändern, ihnen andere Ideen geben. Ich gebe ihnen Texte und sie sagen mir Worte, die sie im Text finden und die ihnen interessant erscheinen. Worte, Ideen, Objekte, Figurencharakterisierungen, sie haben viele Möglichkeiten, Vorschläge zu machen. Bei dieser Arbeit geht es um Improvisation, darum, Situationen zu finden. Auch auf der Bühne: Die Schauspieler gehen auf das Publikum zu, es gibt keine vierte Wand, sie sprechen immer zum Publikum.

Wie wählen Sie die Gefangenen aus, mit denen sie arbeiten wollen?
Die meisten kommen aus dem Gefängnis von Volterra, aber einige bitten auch um Verlegung aus anderen Gefängnissen, weil sie hier mit uns Theater machen wollen. Wir machen öffentliches, nationales Theater im Gefängnis, deswegen ist es wichtig, dass wir Insassen aus anderen Gefängnissen, die Theater machen oder machen wollen, nach Volterra holen, um eine große Kompanie zu haben mit den besten Leuten. Ich meine damit nicht nur die Schauspieler, sondern auch die Bühnentechniker, die Tonmeister, die Elektriker, die Kostümbildner. Also eine hoch qualifizierte Schule für alle Berufe des Theaters. Obwohl wir im Gefängnis arbeiten, sind wird bereits in jeder Hinsicht ein öffentliches Theater, da wir durch regionale und nationale Institutionen (Ministerium, Land, Provinz, Stadtverwaltung) gefördert werden. Dementsprechend arbeiten wir jetzt daran, dass wir zu einer offiziellen, festen Einrichtung werden.
Nicht mit jedem, der kommen will, macht man gute Erfahrungen, aber es gibt interessante Leute, die diese Ideen mit uns entwickeln wollen. Die Leute, mit denen ich arbeite, sind für lange Zeit Teil der Gruppe, mit manchen arbeite ich seit mehr als zehn Jahren. Sie sind nicht unbedingt in jeder Produktion als Protagonisten dabei, aber immer mal wieder. Die Rollen sind nicht von vornherein fixiert. Wenn wir beispielsweise anfangen, an einer neuen Produktion zu arbeiten, haben viele der Leute, die mitarbeiten, denselben Text. Erst nach und nach entscheidet sich, wer welchen Text übernimmt. Erst wenn man das Gefühl hat, es gibt ein wirkliches Bedürfnis in dem, was jemand tut, wird eine Sache glaubwürdig. Es geht nicht um Fähigkeiten oder um Hierarchien innerhalb der Gruppe, sondern um Notwendigkeiten. Vielleicht hat der erste Darsteller der Gruppe ja diesmal andere Probleme oder er ist müde oder er denkt, er sei sowieso der Beste, während ein anderer wirklich Aufmerksamkeit für die Arbeit und ein Anliegen hat und sich diese Rolle sehr wünscht, weil er fühlt, dass es seine Rolle ist. So werden die Rollen einer Vorstellung schrittweise zugeteilt.

Zum einen gibt es eine große Offenheit in der Erarbeitung Ihrer Inszenierungen, gleichzeitig aber eine starke künstlerische Handschrift, eine sehr bildmächtige Anmutung, die mich an Barockspektakel denken lässt. Die Darsteller, allesamt junge, durchtrainierte Männer, haben Spaß daran, auf das Publikum zuzugehen und ihre Körper zu präsentieren, mit den Geschlechterrollen zu spielen. Wie bringen Sie sie dazu, über Schamgrenzen hinwegzugehen und sich auf diese Weise auszustellen?
Natürlich bekomme ich von den Gefangenen auch immer wieder die Frage zu hören, ob das sein muss. Aber wenn man ihnen klarmachen kann, dass es um eine künstlerische Notwendigkeit geht, dann tun sie, was sie tun müssen. Lassen Sie mich ein Missverständnis aufklären: Es geht bei dem, was wir tun, nicht um die Gefangenen, es geht um das Publikum, das Publikum ist der Adressat unserer Arbeit. Die meisten Leute, die sich mit Gefängnistheater beschäftigen, wollen Sozialarbeit machen und haben keine künstlerischen Ideen. Sie glauben, dass man diese Arbeit für die Gefangenen macht. Das ist falsch, wir arbeiten für das Publikum. Das ist das große Problem, wenn man über Gefängnistheater spricht: Viele denken, man macht das für die Gefangenen und wenn diese Probleme haben oder Probleme machen, ist das Ganze beendet. Was wir machen, ist Theater: Wenn das, was ich von den Darstellern verlange, für das Schauspiel notwendig ist, dann diskutieren wir das, aber am Ende werden sie das auch tun. Mir geht es auch darum, Barrieren einzureißen wie etwa: „Ich bin ein Macho und mache so etwas nicht.“ Wenn ich dem begegne, fange ich an, mit dem Einzelnen oder mit der Gruppe zu kämpfen, bis sie es am Ende tun werden, weil sie verstehen, dass sie dadurch offener sind für das Publikum, bessere Schauspieler, mit einer stärkeren Sensualität. Aber man muss daran arbeiten, ihnen Filme zeigen, erklären, was man will. Sie müssen verstehen, warum sie etwas machen sollen, dann machen sie es auch. Ariane Mnouchkine sagte einmal in einem Workshop einen Satz, der mir im Gedächtnis geblieben ist. Sie sagte: Manchmal arbeitet man Tag um Tag um Tag, und nichts passiert, Theater findet nicht statt. Aber in einem Moment, und den kannst du nicht bestimmen, passiert Theater. Auch das Theater kann zum Gefängnis werden. Tagelang passiert nichts, und dann in einem Moment kommt etwas aus jemandem heraus. Mein Bedürfnis, Theater zu machen, ist es, dieses mirakelhafte Ereignis sich vollziehen zu sehen. Die ganze Gruppe empfindet das so: Wir arbeiten tagelang, ohne dass etwas passiert, und dann in einem Moment verstehen sie und sagen oh. Wenn ich vorhin davon gesprochen habe, dass das Theater entscheidet, dann meine ich damit diesen Moment, in dem plötzlich etwas stattfindet, was so besonders ist, so verschieden von dem, was an den anderen Tagen stattgefunden hat, dass eine neue Energie freigesetzt wird. Zunächst einmal bin ich kein Regisseur, sondern jemand, der die Bedingungen schaffen will, damit dies passieren kann. Erst dann bin ich der Regisseur und füge die Dinge zusammen.

Das Gespräch mit Armando Punzo fand im Dezember 2010 während einer Tagung zum Gefängnistheater in Santiago de Chile statt.

 

Armando Punzo ist ein italienischer Theaterregisseur. Er gründete beeinflusst von Grotowski und Barba 1987 den Kulturverein „Carte Blanche“ in Neapel und initiiert seit 1988 Theaterprojekte mit nichtprofessionellen Darstellern aus dem Gefängnis in Volterra. Bis heute arbeitet er mit der von ihm gegründeten „Compagnia della Fortezza“.

Nicole Gronemeyer ist Lektorin im Verlag Theater der Zeit.

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