Theater der Zeit

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Auftritt

Volksbühne Berlin: Die Stimme(n) junger Menschen

„Die Chor“ von Nele Stuhler, DIE CHOR – Regie Hannah Dörr, Nele Stuhler, Irina Sulaver, Gesangschor Canta Chiara, Kostüm Svenja Gassen

von Sophie-Margarete Schuster

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Nele Stuhler Volksbühne Berlin

Birte Schnöink, Lisa Hrdina, Nehle Breer und Marie Jordan in „Die Chor“ in der Regie von Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina Sulaver. Foto Ackermann-Simonow-Kahn
Birte Schnöink, Lisa Hrdina, Nehle Breer und Marie Jordan in „Die Chor“ in der Regie von Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina SulaverFoto: Ackermann-Simonow-Kahn

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DIE CHOR - SIE huscht in langen bunten Morgenmänteln über die Bühne der Prater Studios, präsentiert sich selbst und ihre Geschichte mithilfe einer wild zusammengewürfelten Diashow: von der Steinzeit über die Französische Revolution und die Mondlandung bis hin zu den Inszenierungen Einar Schleefs in den 80er- und 90er-Jahren; all die Ereignisse, bei denen sie stets im Hintergrund stand, aber eben doch von Anfang an dabei war. Mit dieser kleinen, albernen Spielerei beginnt die Uraufführung von „Die Chor“, in der Regie von Hannah Dörr, Nele Stuhler und Irina Sulaver an der Berliner Volksbühne – ein Abend, der zwischen ironischen Blödeleien einige theatergeschichtliche Referenzen aufblitzen lässt, durch die das Ganze hin und wieder die Form einer unerwarteten, medialen Selbstbefragung annimmt: So lesen sich die bunten Morgenmäntel (Kostüm Svenja Gassen) für all diejenigen, die sich mit der Geschichte des Praters auskennen, als direktes Zitat aus René Polleschs „Ein Chor irrt sich gewaltig“ (2009). Und so tritt auch das Wort „EINER“ als Gegenstück zu DIE CHOR im Text mit einem Augenzwinkern als „EINAR“ in Erscheinung: „Ich bin DIE CHOR! / Und was ich mir vorgenommen habe für heute, das ist…/ Dass ich mich heute mal breit mache! / Ich muss mich immer so zusammenreißen für EINA“, rufen die zwölf Frauen im Chor und erklären den Zuschauer:innen im Anschluss, wieso sie eigentlich die viel bessere Protagonist:in wären als EINA. Eine schöne Idee, auf die das Publikum allerdings größtenteils verhalten reagiert. Die harmonische Zusammenarbeit von Nehle Breer, Lisa Hrdina, Rahel Hutter, Marie Jordan, Carolin Knab, Johanna Link, Hannah Müller, Thea Rasche, Birte Schnöink, Kara Schröder, Lou Strenger, Irina Sulaver macht es dennoch möglich, dass sich das chorische Sprechen bis zum Ende des Abends erfolgreich tragen lässt.

Nachdem DIE CHOR dann feststellt, dass das Theater ja eh niemanden interessiere und nun die Zeit für Film gekommen sei, rennt sie trampelnd eine hölzerne Rampe hoch, die sich – das Publikum in zwei Hälften teilend - einmal quer durch den Saal zieht. Oben angekommen findet sie sich zu einer kleinen Band aus Schlagzeug, Keyboard und E-Bass zusammen, um sich selbst einen schwungvollen Soundtrack zu spielen, zu dem der Rest von DIE CHOR, ausgestattet mit einem Akku-Schrauber, unten auf der Bühne schnell das hölzerne Bühnenbild eines Western-Films zusammenschustert. Hier stellt sich langsam die Frage: Wohin führt das Ganze jetzt? Die Antwort auf diese Frage kommt unerwartet und baut sich still – während der Saal DIE CHOR auf einer Leinwand dabei zuschaut, wie sie im Foyer der Volksbühne einen Western-Film nachspielt – im Rücken der Zuschauer:innen auf: Mit engelsgleichen Stimmen beginnt der Gesangschor „Canta Chiara“ Enrique Iglesias „Hero“ anzustimmen. Der 2002 gegründete Mädchenchor ist - und das wird einem als Zuschauende:r beim Klang dieser zauberhaften Stimmen eindrucksvoll klar – der eigentliche Star des Abends, ohne den die Inszenierung ab einem bestimmten Punkt womöglich auf der Stelle getreten wäre. DIE CHOR albert zwar weiterhin auf der Leinwand herum, doch im Saal dreht man sich immer wieder zu den Rängen um. Die Entscheidung Dörrs, Stuhlers und Sulavers, den Gesangschor für dieses Projekt mit ins Boot zu holen, öffnet die Volksbühne genau an der richtigen Stelle: Die Stimmen der jungen Menschen zeigen uns (ganz ohne ironisches Referenzieren), was CHOR so alles kann. Mit viel Kraft und ebenso viel Zärtlichkeit tut dieser Chor das, was er eben tun soll: in der Vereinigung vieler Stimmen berühren.

Während „Canta Chiara“ nun erstmal unauffällig im Saal Platz nimmt, ist DIE CHOR weiterhin damit beschäftigt, als Protagonist:in die Große Bühne einzunehmen, um sich aufwendig an der Frage abzumühen, wen man in einem Chor eigentlich zu loben hat, wenn dieser Kekse backt – doch damit soll nun Schluss sein! Als der Gesangschor sich schließlich inmitten des Western-Film-Sets vor DIE CHOR aufbaut und die „Protagonist:in“ zur Rede stellt, beginnt die Inszenierung plötzlich mit erfrischender Konkretheit die politischen Mechanismen eines Mediums zu befragen. Die jungen Frauen, die eigentlich drauf und dran waren, das patriarchale künstlerische Subjekt zu demontieren, werden auf einmal von noch jüngeren Frauen in ihrer eigenen Beteiligung an den Hierarchien des Theaters überführt. Was hier auf der Leinwand in einem ironischen Hin und Her zwischen DIE CHOR und „Canta Chiara“ verhandelt wird, begleitet die Zuschauenden in ein selbstständiges Nachdenken über die machtpolitischen Strukturen der Kunst. „DIE CHOR“ trägt auf diese Weise zu einem Theater bei, das in einer forschenden Auseinandersetzung seiner:ihrer Selbst zu experimentieren wagt. „Die Chor“ gelingt dies – und das macht den Abend so anregend – in einer Form, die nicht in der Beschäftigung mit sich selbst stehen bleibt, sondern die Bühne gleichsam frei macht, um den Stimmen junger Menschen einen Raum zur Verfügung zu stellen. Einen Raum, in dem DIE CHOR es riskiert, plötzlich selbst in den Hintergrund gedrängt zu werden.

Erschienen am 27.3.2023

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