Auftritt
Aarau: Ruedi Häusermann flaniert mit Robert Walser
Bühne Aarau: „Schauplatz der Kunst“ von Judith Gerstenberg und Ruedi Häusermann (UA). Komposition, Regie, Bühne und Licht Ruedi Häusermann
von Fabienne Naegeli
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Schweiz Theaterkritiken Musiktheater Judith Gerstenberg Ruedi Häusermann Theater Tuchlaube Aarau

Es wird gesägt, geschliffen, gehämmert, gebohrt und Staub gesaugt beim Einlass des Publikums in die Alte Reithalle Aarau. Zugleich nehmen sieben Musikerinnen und Musiker Platz zwischen absurd hohen Sockeln, die wie Baumstämme in den Bühnenhimmel ragen und auf denen Keramikskulpturen von Ernst Häusermann stehen, dem älteren Bruder von Theatermacher, Komponist und Musiker Ruedi Häusermann. Unbeirrt werkelt der Assistent im Arbeitskittel weiter. Die Sockel müssen schließlich für die Ausstellung fertig werden. Währenddessen setzt ein Kurator, der wie Ruedi Häusermann gekleidet ist, die Kunstobjekte ins richtige Licht, fotografiert sie und reflektiert über das Flanieren, das scheinbar absichtslose Umherschweifen und Beobachten. Im Laufe des Abends meldet er sich immer wieder zu Wort mit witzigen und melancholischen Gedanken, fast alles Fragmente aus dem Werk von Robert Walser, einem Seelenverwandten von Ruedi Häusermann, der in stundenlangen Spaziergängen die Welt beobachtete. Den Dingen nachzuspüren, ist für Häusermann eine künstlerische Lebenshaltung. „Es ist mir immer mehr zum Thema geworden, wie man zu Rank kommt als Künstler in einem allernormalsten Berufssinne“, so Häusermann im Programmheft zum Stück „Schauplatz der Kunst – Plädoyer für den Flaneur“. Was bedeutet es, Künstler zu sein? Wie kann Kunst entstehen? Was sind die inneren und äußeren Bedingungen? Es geht um den angeblichen Müßiggang von Künstlern, den sozialen Druck, etwas Nützliches zu machen, und die Verteidigung eines kreativen Daseins. Walser beschreibt dieses als ein „Heraustreten aus dem Rahmen der Bisherigkeit“. Und Häusermann? Seine Inszenierung ist ein Schaulaufen der verschiedensten Kunstsparten. In vier großen Kompositionen führt er zwei Formationen zusammen, mit denen er schon seit Langem arbeitet, das Henusode-Streichquartett und ein frei improvisierendes Trio aus Bass, Schlagzeug und mit Häusermann an der Querflöte, der Klarinette und am Örgeli. Sie treiben das absichtslose Flanieren voran mit minimalen Verschiebungen und Variationen, lassen Walsers Texte schweben mit einem Geflirr aus Jazz und Neuer Musik, aus dem immer wieder ein Liedchen hervordringt, das aber sogleich wieder verschwindet. Erstmals in einer Inszenierung von Häusermann spielen die Keramikskulpturen seines Bruders eine Rolle. Die abstrakten Tonformen, die von Landschaft und Natur inspiriert scheinen, hat Häusermann beim Flanieren im Atelier und Kellerdepot seines Bruders gefunden. Es sind Objekte, die zu verschiedenen Zeiten im Schaffen von Ernst Häusermann entstanden sind. Das Platzieren dieser Tonfiguren in der Ausstellung wird durch Geräusche und Klänge verlebendigt. Jeder Schritt des Kurators und seines Assistenten wird vertont. Lüften die beiden die Tücher, die über den Keramiken liegen, ahmen das die Musiker mit übergroßen Flüstertüten nach. Schreiben sie Ausstellungstexte auf einer alten Schreibmaschine, wird mit Steinen rhythmisch geklappert. Und soll die Alarmanlage getestet werden, heulen die Streicher lautstark auf. So dringen die Musiker immer tiefer in die Ausstellung vor und die beiden Ausstellungsmacher immer stärker ins Orchester ein. Die Musik von Häusermann, die Kunst seines Bruders und Walsers Texte verbinden sich spielerisch zu einem faszinierenden, humorvollen Kosmos, in dem Konkretes verschwimmt und das Publikum sich verlieren kann in den tongewordenen Gedanken des Flaneurs. Bis plötzlich das Telefon klingelt: Ein roter Punkt wird gesetzt, ein Kunstwerk ist verkauft worden. Nichts ist zufällig, alles bis ins Detail durchdacht auf Häusermanns „Schauplatz der Kunst“. //