Theater der Zeit

Auftritt

Schauspielhaus Bochum: Sanft zerfledderte Welt

„Grelle Tage“ von Selma Kay Matter – Regie Caroline Kapp, Bühne Teresa Häußler, Kostüm Carla Loose

von Stefan Keim

Assoziationen: Dramatik Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Dossier: Neue Dramatik Selma Kay Matter Schauspielhaus Bochum

João d’Orey in „Grelle Tage“ in der Regie von Caroline Kapp am Schauspielhaus Bochum. Foto p_l_zzo photography
João d’Orey in „Grelle Tage“ in der Regie von Caroline Kapp am Schauspielhaus BochumFoto: p_l_zzo photography

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Das Eis taut. Ein zerfledderter Hund kommt zum Vorschein, 13.000 Jahre alt ist er und möchte gern als Wolf angesprochen werden. Er begegnet einem non-binären Teenager, der nicht mehr schläft. Weil er Angst hat, zu verpassen, wenn etwas verschwindet. Mit dem See ist das passiert, Jo hat kurz nicht hingeschaut, schon ist das Wasser weg. Bis auf eine kleine Pfütze, der Hund trinkt aus ihr. Und muss sich rechtfertigen, weil er das Wasser nicht gefragt hat, ob es getrunken werden will.

Ja, das ist ein seltsames Stück. „Grelle Tage“ heißt es, wurde letztes Jahr am Wiener Schauspielhaus uraufgeführt und ist bei Suhrkamp erschienen. Selma Kay Matter, Jahrgang 1998, hat es geschrieben, eine non-binäre Autor:in aus der Schweiz, ausgezeichnet mit dem Nestroy-Theaterpreis in der Kategorie „bester Nachwuchs“. Nun hat Caroline Kapp „Grelle Tage“ in den Bochumer Kammerspielen inszeniert.

Die Szenen flowen entspannt zwischen Brandenburg und Sibirien hin und her, zwischen dem Hund und dem Teenager sowie zwei Archäolog:innen, die das Skelett eines Mammuts finden. Das nicht mehr ewige Eis gibt einiges frei, was in ihm Jahrtausende eingeschlossen war. Plötzlich treffen sich alle Figuren in einem Baumarkt, das Mammut ist nicht in einem naturwissenschaftlichen Museum gelandet, es wird verhökert. Und alle tun so, als wäre überhaupt nichts passiert, als ginge auf der kollabierenden Welt das Leben einfach weiter wie vorher.

Es ist leicht, diesen Theatertext doof zu finden. Er scheint luftig dahinzuschweben, mit seinem Thema folgenlos zu jonglieren, den Klimawandel zu verharmlosen. Auch die Inszenierung setzt da keine Akzente. Das Bühnenbild zeigt eine Skulptur, die Berglandschaft oder Landkarte sein könnte. Der zerfledderte Hund trägt eine Art Brustkorbskelett, die Archäolog:innen Schutzanzüge und Jo als Teenager ein Flodderhemd, an dem ständig herumzuppelt wird. Klar, wenn man unter Schlafentzug leidet, ist man irgendwie hinüber. Dazu kommt noch eine nicht näher in die Handlung integrierte Figur, die ein paar erläuternde Sätze spricht.

Inhaltlich ist der Abend ein Nichts, ein Katastrophen-Tandaradei. Dennoch hat er mir gefallen. Und ich hab’ keine Ahnung, wieso. Klar, da ist ein gutes Ensemble am Werk. William Cooper zeigt als Hund seltsam verträumte Momente, Stacyjan Jackson und Michael Lippold sind als Mammutforschende ein schräges Komikduo, und Danai Chatzipetrou entwickelt auch eine starke Bühnenpräsenz, wenn sie überhaupt nichts zu spielen hat. João d’Orey nervt ein bisschen als hampelnder Teenager, stört aber nicht weiter.

Wahrscheinlich ist es die entspannte Atmosphäre des 80-Minuten-Abends, die mich für sich eingenommen hat. Jede aktivistische Aufregung ist ganz weit weg, die Zerfledderung der Welt schreitet voran, und niemanden stört es. Immerhin kommen ja Mammuts und Steinzeithunde zum Vorschein. Und es gibt immer noch Baumärkte. Die nette Skurrilität könnte auch ein böses Gesellschaftsporträt sein, denn genau so verhalten sich die meisten. Oder es ist meine wohlwollende Interpretation, weil ich mich irgendwie ganz wohl gefühlt habe. Kann sein. Ach, ich frage mal das Leitungswasser, ob es gekocht werden will, und mache mir einen Tee.

Erschienen am 23.9.2024

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