Theaterkünstler*innen
Röggla I–III. II: Der Vater greift zur Kettensäge
Kathrin Rögglas „Kinderkriegen 4.0“ am Schauspiel Dortmund
von Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Akteure Dramatik Sprechtheater Theaterkritiken Theater Dortmund

Irgendwo ist Krieg, vielleicht auch eine Pandemie. Aber das ist den Leuten auf der Bühne ziemlich schnurz. Sie haben ihre eigenen Probleme, und zwar genau dort, wo sie das größte Glück verspüren sollten. In der Familie, beim Nachwuchs, den Kindern, der Zukunft unserer Gesellschaft. Kathrin Röggla hat schon vor zehn Jahren das „Kinderkriegen“ zum Thema einer boshaften Satire gemacht. Wobei der Begriff doppeldeutig ist, denn die Eltern bekriegen sich untereinander. Jeder und jede glaubt, das richtige Rezept zu haben, wie aus dem Nachwuchs ein mindestens halbgeniales Wesen mit Menschheitsrettungspotenzial wird. Von diesem Druck erzählt das Stück.
Ursprünglich war es ein Singspiel, doch nun ist die Musik verloren gegangen. „Kinderkriegen 4.0“ ist – so beschreibt es die Autorin selbst – ein „Musical, dem die Farbe abgeblättert ist“. Auch sonst hat Kathrin Röggla ihren Text überarbeitet und dem heutigen Sprachmüll angepasst. Ein junger Vater – laut Programmheft der „Engagierte“ – springt schon vor Beginn im Publikum herum. An Christopher Heislers Kleidung kleben eine Menge Kuscheltiere. Der Versuch, in die Welt der Kinder einzutauchen, endet schnell in der Grenzdebilität.
Den anderen ergeht es nicht viel besser. Das Ensemble sitzt auf einer Mischung aus Klettergerüst und umgekippter Achterbahn. Über ihnen erscheint der Sprechchor des Dortmunder Schauspiels per Video und treibt die Eltern ins panische Zelebrieren ihrer Lebenslügen. Dass die Kinder ihre Ehe gerettet haben sollen, glaubt der „alten Mutter“ und ihrem Mann, dem „Spätberufenen“, keiner. Denn Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye spielen ein in Hass und Konventionen erstarrtes Paar, bei dem jedes Kind froh sein kann, wenn es die Jugend einigermaßen unbeschadet überlebt.
Ein Bundestagsabgeordneter (Adi Hrustemović) instrumentalisiert seine Familie für politische Zwecke, eine „Rabenmutter“ (Nika Mišković) kümmert sich nur um sich selbst. Auch eine „Kinderlose“ hat Kathrin Röggla in ihr Figurenpanorama aufgenommen, eine junge Frau, die sich für Klimaschutz und Ökologie einsetzt. Aber ein überzeugender Gegenentwurf ist sie nicht. Kostümbildnerin Nicola Gördes lässt die Schauspielerin Linda Elsner mit bunter Haut wie ein Alien aussehen. Kinderlose kommen aus einer anderen Galaxis, sie bleiben Außenseiter in der Diktatur der Infantilität.
Dortmunds Intendantin Julia Wissert hat die Texte mit dem Ensemble genau durchgearbeitet, die Botschaften kommen klar und direkt, die Aufführung hat Tempo. Aber man weiß auch nach einer Viertelstunde, wohin der Säugling krabbelt. Oder das Häschen hoppelt. Eine allerdings spielt über ihr Rollenklischee hinaus und entwickelt Momente echter Menschlichkeit. Martina Eitner-Acheampong zeigt als Oma eine vielschichtige Persönlichkeit. In ihren Blicken und den kleinen Momenten des Widerstands deutet sie an, dass es doch noch etwas anderes gibt, als sich dem gesellschaftlichen Druck zu unterwerfen. „Die Oma singt“, fordert der Chor von der Leinwand. „Ich singe nicht“, lautet die Antwort. Und wenn sie es doch tut, sind es schrille Opernkoloraturen, kein Rolf-Zuckowski-Zuckergesäusel.
Als „satirischen Horrortrip“ hat das Dortmunder Schauspiel die Aufführung angekündigt. Ein gemäßigt böses Sprachspiel ist sie geworden. Bis kurz vor Schluss. Getreu der – zugegeben leicht abgewandelten – Theaterweisheit „Damit sich doch noch was bewege, nimm rotes Licht und Kettensäge“, tobt Ekkehard Freye, der „Spätberufene“, als kleine Hommage an die Horrorikone „Leatherface“ über die Bühne. Doch ein „Blutgericht in Dortmund“ wird nicht daraus, eher der hilflose Versuch eines Amoklaufs nicht alles retten. //