Theater der Zeit

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Auftritt

Salzburger Festspiele: Jenseits der Graustufen

„Liebe (Amour)“ nach dem Film von Michael Haneke – Regie Karin Henkel, Bühne Muriel Gerstner, Kostüme Teresa Vergho, Chorleitung Alexander Weise

von Sabine Leucht

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Münchner Kammerspiele Salzburger Festspiele

Der Chor, Katharina Bach, Nine Manthei (Chor) und André Jung in „Liebe (Amour)“ in der Regie von Karin Henkel bei den Salzburger Festspielen. Foto SF/Matthias Horn
Der Chor, Katharina Bach, Nine Manthei (Chor) und André Jung in „Liebe (Amour)“ in der Regie von Karin Henkel bei den Salzburger FestspielenFoto: SF/Matthias Horn

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Schon ein Blick auf die Bühne beseitigt alle Zweifel. Grelles Weiß, dazu schwarze Details und Schrift: Ort, Name, Datum. Hier bleibt nichts im Graubereich, sondern alles, was in Michael Hanekes preisgekröntem Film „Liebe“ (im Original „Amour“) von 2012 im Halbdunkel eines über Jahrzehnte geteilten Zuhauses gewachsen ist, wird ans Licht gezerrt, kartiert und ausbuchstabiert werden!

Klinisch kalt ist Muriel Gerstners Bühne, auf der Karin Henkel Hanekes Meisterwerk unters Sezierbesteck legt und das meiste darin in sein Gegenteil verkehrt. Bei ihm ist der Alltag von Anne und Georges – gespielt von Emanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant – ruhig und kultiviert. Das Paar hat die Achtzig bereits überschritten und teilt immer noch seine Begeisterung für die Musik und zärtliche Komplimente. Ob er ihr schon gesagt habe, wie hübsch sie aussähe, fragt er, als beide von einem Konzert nachhause kommen. Und da bricht einem schon das Herz, weil man weiß, wie alles endet. Ein Schlaganfall und Anne ist halbseitig gelähmt. Ein zweiter wird ihr die Sprache und jede Bewegungsfähigkeit nehmen. Georges kümmert sich hingebungsvoll um sie, gerät an die Grenzen des Aushaltbaren und drückt seiner großen Liebe ein Kissen ins Gesicht. Lange, tödlich, und ohne ein einziges Mal zu zucken.

Von diesem Punkt aus startet Henkel. André Jung sitzt im Salzburger Landestheater mit dem Kissen im Arm an der Rampe wie ein Marker der Verzweiflung und des Schon-Geschehenen. Alle, die nach ihm auftreten, macht dieser Beginn zu Gespenstern seiner Erinnerung; und sie stehen bei Henkel zudem fast alle für etwas Abstraktes. Joyce Sanhá und Christian Löber etwa für das marode Gesundheitssystem, dessen Zynismus und kapitalistische Verfasstheit offenbar partout entlarvt werden muss. Also tragen sie Schwester-Ratched-Hauben, rufen „Wir wollen nichts verheimlichen!“ und posaunen aus, was bei Haneke zwischen den Protagonisten ungesagt in der Schwebe bleiben darf. Wenn es darum geht, was Anne nicht mehr kann und welche unappetitlichen Flüssigkeiten sich prima vom modernen Krankenbettgestell abputzen lassen, hat dieses Bilanzieren des Verlustes und Verfalls etwas Sensationsheischendes. Ein krasserer Kontrast zur feinen, von gegenseitigem Respekt und dem Ringen um Würde geprägten Intimität des Films ist kaum denkbar. Gerade weil in ihm kaum ein Klagen über beider Lippen kommt, wiegt die eine umso schwerer, die Anne sehr besonnen äußert: „Es gibt einfach keinen Grund weiterzuleben. Ich weiß, dass es einfach nur noch schlimmer wird.“

Die kammerspielartige Atmosphäre wie den psychologischen Realismus der Vorlage nicht kopieren zu wollen, ist nachvollziehbar. Das filigrane Geflecht aus Zuneigung, Scham und Überlastung komplett zu zerstören, erweist sich allerdings als Riesen-Fehler. Denn damit ist auch alles weg, was den Schluss so zwingend wie unerträglich macht.

Bei den Salzburger Festspielen, und ab Herbst auch an den koproduzierenden Münchner Kammerspielen, interessiert die Geschichte von Anne und Georges nur als Folie für die (dann gar nicht so viel weitergehende) Diskussionen über Pflege, Sterbehilfe und unser aller Hinfälligkeit. Privates soll gesellschaftlich und Individuelles exemplarisch werden. Also arbeitet Henkel viel mit verstärkenden Halleffekten und Wiederholungen und splittet die Hauptfigur in unzählige Annes auf. Katharina Bach spielt sie mal als junge und mal als alte Frau, dann wird statt ihrer eine Gummipuppe gewickelt und ein größtenteils betagtes Laien-Ensemble auf Liegen herumgefahren und zur Illustration einzelner Aspekte der komplexen Thematik instrumentalisiert. So wird einem Mann der gebrechlich wirkende Oberkörper gewaschen – und das famose Schauspieler:innen-Kind Nine Manthei erinnert als Hybrid aus junger Anne und allwissender Erzählerin daran, dass für uns alle bereits mit der Geburt die Uhr zu ticken beginnt.

Identifikation ist in diesem memento mori nicht intendiert. Und doch gibt es zwei berührende Szenen: Eine zwischen Jung und Bach, als er ihr beim Aufstehen hilft und beide aneinandergeschmiegt das Gehen üben – und eine zweite, in der eine ältere Dame von ihrem Sohn erzählt, der als noch junger Vater von vier Kindern an ALS starb. Doch das bleiben Ausnahmen im aktionistischen Herumklettern auf szenischen Nebenschauplätzen und inhaltlichen Metaebenen.

Statt uns wie Haneke die harten Nüsse, die im Plot stecken, selbst knacken zu lassen, hat Henkel sie paritätisch portioniert und teils schon vorverdaut. Der junge Mann mit ALS wollte am Ende sterben, ein Laien-Darsteller mit einer seltenen Muskeldystrophie hat dank eines gigantischen Lebenswillens seine schlechte Prognose bereits um 15 Jahre überdauert. Irgendwann loben alle im Chor den freien Tod zur rechten Zeit – und der:die Tänzer:in Joel Small liefert als szenisches Hintergrundrauschen eine fast ununterbrochene Zitter- und Leidensperformance ab – und wirkt wie die meisten der Darsteller:innen verloren im Konzept, dessen Bausteine sie selbst sind.

Die hochkarätige Besetzung, das Thema wie der für Henkel ungewöhnliche performativ-dokumentarische Ansatz hatten deutlich mehr versprochen.

Erschienen am 14.8.2023

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