Theater der Zeit

oper, klima und der wandel

„Wechsel/Wirkung“

von Manfred Fischedick, Uwe Schneidewind, Berthold Schneider und Carolin Baedecker

Erschienen in: Arbeitsbuch 2021: transformers – digitalität inklusion nachhaltigkeit (07/2021)

Assoziationen: Debatte Musiktheater Dossier: Klimawandel Wuppertaler Bühnen

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Das Interview mit UWE SCHNEIDEWIND und BERTHOLD SCHNEIDER wurde im September 2019 geführt von der Dramaturgin UTA ATZPODIEN und dem Performer ROLAND BRUS.

Das Kurzinterview mit Uwe Schneidewind wurde am 2. Mai 2021 geführt von Berthold Schneider.

Die Projektskizze zum „Transformationstandem“ stammt von CAROLIN BAEDEKER (SV Abt bach kocs und prodWuppertal , März 2020).

Das Kurzinterview mit MANFRED FISCHEDICK wurde am 28. April 2021 geführt von BERTHOLD SCHNEIDER.

Originalbeitrag von BERTHOLD SCHNEIDER, Mai 2021

Unter dem Projekttitel „Wechsel/Wirkung“ haben der Wuppertaler Opernintendant Berthold Schneider und Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie (WI), drei Wochen lang ihre Jobs getauscht. Die Idee entstand spontan im Herbst 2018 im Opernfoyer bei der Präsentation von Uwe Schneidewinds Buch Die Große Transformation1, in dem der Begriff der „Zukunftskunst“ neu definiert wird und eine zentrale Rolle spielt. Inzwischen hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Institutionen entwickelt, deren jüngstes Vorhaben ein „Transformationstandem Nachhaltigkeit“ ist, bei dem beide Partner sich erneut in einen ergebnisoffenen Prozess begeben. Doch zunächst zum Ämtertausch:

Gab es Vorüberlegungen oder Absprachen für so ein Wagnis?

BS: Die Einladung zum Ämtertausch war ein situativer Gedanke. Solche Ideen kommen einem meiner Erfahrung nach jedoch nicht, wenn man vorher nie über einen solchen Kontext nachgedacht hat. Es muss ein Gedankenfeld geben, in dem eine vage Idee rotieren kann, und dann schließen sich die Synapsen unerwartet. Bei der Buchpräsentation kam es einleitend zu einem performativen Aufschlag vonseiten der Oper. Das Panel war toll besetzt, und die Qualität der Diskussion, die Energie im Raum waren so hoch, dass man nicht rausgehen wollte mit: Das war nett, und wir machen weiter wie immer.

US: Wir haben Institutionen übernommen, die ein relativ klassisches Rollenverständnis haben. Das Wuppertal Institut ist ein großer globaler Thinktank, der in dieser Stadt durch Zufall wie ein Ufo mal gelandet ist. Und Oper funktioniert im Ursprungsverständnis erst mal ein ganzes Stück kontextfrei.

Wie ging es dann nach der Ankündigung des Bürotauschs weiter?

BS: Nach der Ankündigung begannen wir zunächst mit einer Reflexionsphase: Welche Ziele können wir klar benennen, was lassen wir offen, und was ist der Kern des Projekts?

US: Uns wurde klar, das Ganze hat eine Wirkung auf einer individuellen, einer organisatorischen und gesellschaftlichen Ebene. Welche Form des Anders- und Neudenkens braucht es eigentlich in Zeiten des Umbruchs? Das war unser Kompass.

War das Experiment eine Zumutung?

BS: Das Ganze war ganz eindeutig eine Grenzüberschreitung: Was formale Abläufe angeht, unsere Vertragssituation, die Entscheidungsfindung im Theater. Normalerweise sagen wir ja nicht, wir machen jetzt alles mal ganz anders.

US: Das Projekt wurde von dem Performer Daniel Hörnemann und dem Philosophen Christian Grüny begleitet. Das war sehr wichtig für uns. Sie haben entschieden dazu beigetragen, dass wir den Kern herauskristallisieren konnten.

BS: Es gab regelmäßige Treffen mit den beiden, auch, um die praktischen Dinge zu berücksichtigen, rausfinden, wie es geht. Die haben uns alles noch mal gespiegelt und ganz konkrete Handlungsvorschläge gemacht. Dann gab es bei uns im Haus Gespräche, in denen wir die Mitarbeiter informiert und ihnen die Möglichkeit zum Feedback gegeben haben. Das war extrem gut und wichtig, denn da ging eine ganze Menge Druck raus. Drei Wochen vor Projektstart hatten wir ein großes Treffen, zu dem alle Mitarbeiter beider Institutionen gemeinsam eingeladen waren.

Wie sah dann die tägliche Praxis aus?

US: Mein Arbeitstag in der Oper hat sich stark in die Abende verschoben. In der ersten Woche liefen Proben. Es war faszinierend, in diesen Arbeitsalltag einzutauchen, um 20 Uhr auf der Probebühne einen Einblick zu bekommen und die Vorstellungen zu besuchen. Ich hatte in der Zeit auch externe Vorträge und war in meiner alten Rolle gefragt. Da habe ich versucht, diese Vorträge aus der Perspektive von dem, was ich gerade machte, zu gestalten.

Wie war das für Sie?

BS: Verunsicherung war eigentlich die Grundsituation. Ich gehe andauernd in Situationen rein, deren Dimensionen ich nicht kenne. Worüber sprechen die Menschen jetzt eigentlich? Und ich bin ja nicht da, um dabeizusitzen und zu hospitieren. Ich komme ja in der Funktion des Leiters, muss diese Rolle ausfüllen. Aber alle um mich herum haben mehr Sachkenntnis als ich. Mal hat es mich platt gemacht. Ganz oft hat es auch Dinge freigesetzt. Wenn ich also inhaltlich nicht in der Lage bin, Setzungen zu machen, muss ich natürlich andere Strategien anwenden, wenn ich Bewegung erzeugen will. Für mich wurde klar, dass ich über Fragen etwas auslösen kann. Nicht nur „Erklärt mir mal? Wo ist das Problem?“. Indem ich eine Frage aus einer dezidiert anderen Perspektive stelle, kann ich bei meinem Gegenüber Gedankenprozesse auslösen, die manchmal produktiver sind, als wenn ich in einem zielgerichteten Gespräch bin, bei dem alle wissen, worum es geht.

Solche Veränderungsprozesse erinnern an Segeln auf hoher See. Hatten Sie noch Funkkontakt zum Mutterschiff? Gab es in der ganzen Zeit keine Störfälle, kein SOS?

BS: Wir hatten für den dreiwöchigen Projektzeitraum etwa in der Mitte einen Tag des Rücktauschens definiert. Bei mir wurde diese Rückkoppelung relevant: Ich bin auch zurückgegangen, um Spannungen abfedern zu können.

Waren Sie im Neuland auf sich selbst zurückgeworfen, oder hatten Sie ein Libretto zum Navigieren?

US: Es gab Situationen, da ging es an Grenzen, wo klar war, jetzt braucht es eine Entscheidung. Dann haben wir uns telefonisch verständigt. In so einer extremen Situation lässt du es nicht einfach weiterlaufen.

BS: Die Art zu führen ist im Wuppertal Institut und Theater total anders. In der Oper kommen die Mitar beiter*innen und wollen Entscheidungen. Wenn sie aus dem Büro rausgehen, muss klar sein, wohin der Zug fährt. Der Druck ist hoch, das sind oft viele Entscheidungen an einem Tag. Dadurch entsteht hier eine hohe Dynamik und eine große Unmittelbarkeit. Im WI habe ich das nicht so empfunden. Das sind langfristige Prozesse, die die Vorgabe brauchen, wo dieser Tanker hinfährt. Das macht man aber nicht im Tagesgeschäft. Im Theater ist alles direkt. Du sagst etwas und siehst: Aha, die Stühle auf der Bühne, die gestern noch weiß waren, sind jetzt grün.

US: In der Oper lief ein herausragend getakteter operativer Betrieb. Es war eine Riesenhemmung, eine Chefsimulation aufzuziehen und noch mehr Störung in diesen Betrieb hineinzubringen. Dadurch bin ich in einen defensiven Modus gekommen. Ich habe mir Felder herausgesucht, in denen ich Anknüpfungspunkte sah, in der organisatorischen Steuerung, Marketing, in der Theaterpädagogik. Schnell haben wir Wege gefunden, wie wir die Entscheidungsstrukturen dezentralisieren, damit das hier weiterläuft. Mir wurde signalisiert, Herr Schneidewind, es reicht schon, dass Sie hier sind und Herr Schneider nicht.

Welche Auswirkungen hatte der Ämtertausch neben den persönlichen Erfahrungen konkret für die unterschiedlich tickenden Organisationen? Ist dadurch etwas in Bewegung gekommen?

BS: Im WI laufen 50 Projekte parallel mit sich überlappenden Projektphasen. Wir hingegen haben ganz wenige Projekte, hier arbeiten sehr viele Menschen an einer einzigen Premiere.

US: Diese Orte der Unmittelbarkeit sind in meiner Organisation an vollkommen anderen Stellen, ganz selten, nur in Notfällen, nicht im Normalbetrieb. Bei uns findet die Unmittelbarkeit dezentral statt, in einzelnen Projektteams.

US: Bei uns ist der Nachklang gar nicht so intensiv gewesen, weil wir uns immer mal wieder mit neuen und kreativen Ideen auseinandersetzen. Die Wirkung für uns liegt mehr in der Außenwirkung, da wir jetzt ganz anders wahrgenommen werden als Brückenbauer zur Kunst. Der Begriff der „Zukunftskunst“ hat sich ganz anders aufgeladen. Das Spektrum hat sich erweitert, um unsere Transformationsthemen in einem solchen Raum zu diskutieren. Es ist ein innerlich strategischer Nachklang, der weiterwirkt.

Ist das eine andere Betriebstemperatur? Wie viel Grad, Celsius, Fahrenheit?

US: Berthold sagte mal: Wie hältst du das nur aus, ihr schiebt euch da zwei Stunden lang Gedanken vom Hirn eines toten Körpers in das Hirn eines anderen toten Körpers und findet das völlig normal.

BS: Ich habe die Situation im WI als sehr unphysisch erlebt. Wir haben hier im Theater eine Auseinandersetzungskultur, die darauf ausgerichtet ist, Konflikte direkt anzugehen. Dann spritzt der Eiter. Am nächsten Tag ist das geklärt, die Dinge sind befriedet. Wir haben einfach so viele Sichtweisen, so ein großes Konfliktpotenzial, dass wir es uns gar nicht leisten können, Konflikte unter den Teppich zu kehren. Am Ende halte ich das für unser Betriebsklima aber für sehr gut. Im WI ist die Temperatur eher gleichbleibend. Bei uns ist sie extrem schwankend, im Sekundentakt, vom Ruhezustand zur Hyperaktivität.

US: Für mich war dies ein Schlüssel zu verstehen, warum wir mit unseren Themen so wenig auf die Gesellschaft einwirken, denn das Tote, dieses Nur-in-den-Kopf-Kommen, bewegt Menschen nicht, reißt sie nicht mit. Eine der Konsequenzen ist für mich die Erkenntnis, dass wir viel mehr Libretti und Librettisten brauchen, die uns das, was wir machen, übersetzen, weil uns dieser Zugang zu der emotionalen Ebene auch durch die Selbstkasteiung und Selbstdefinition des Wissenschaftsbetriebs so komplett fehlt.

BS: In der Oper haben wir als Konsequenz des Projekts natürlich nicht angefangen, alle Büros neu zu streichen. Aber: Tektonische Platten haben sich gelöst. Es war ein massiver Eingriff in Sicherheiten und Gewohnheiten. Das hat sehr viel Energie freigesetzt, in jede Richtung, auch negative Energie. Mitarbeiter*innen haben sich nach dem Projekt spürbar anders definiert, Initiative ergriffen, und das hat ihnen ein anderes Selbstbewusstsein gegeben.

Die politische Polarisierung und der ökologische Notstand bewegen die Menschen weltweit. „Die Große Transformation“ will über eine „Zukunftskunst“ Wege aus dieser Situation finden. Inwieweit hat die gesellschaftliche Notsituation für den Ämtertausch eine Rolle gespielt?

US: Das war nicht so zentral. Wir haben das Zukunftskunstmotiv nicht zu sehr aufgeladen, um die Organisationen nicht zu verlieren mit salbungsvollen Reden.

BS: Wir sind in meiner Intendanz mit dem Anspruch angetreten, dass die Realität des 21. Jahrhunderts nicht an den Türen des Theaters aufhört. Wir befinden uns in einer sehr dynamischen Zeit und müssen darauf reagieren. Das können wir viel besser, wenn wir flexibel sind. Das Gegenteil von dem denken können, was wir gerade tun. Das kann man trainieren. Dafür ist Theater ein guter Ort. Aber ich kann es eben nicht nur auf der Bühne postulieren, ich muss es vorleben, mich aussetzen und dafür persönliche Konsequenzen ziehen. Das Publikum merkt das und die Mitarbeiter auch.

Würden Sie das Experiment wiederholen? Oder was ändern?

BS: Ich würde es sofort wieder machen. Es müsste etwas aber ganz Anderes sein, damit wir uns selbst überraschen, damit wir lernen.

US: Ich würde mir sehr viel mehr Zeit nehmen in der Mitnahme der Organisation, um das gesamte Potenzial zu nutzen. Augen, Ohren und Herz offen halten. Das hat nicht nur mit einer bestimmten Institution zu tun, sondern mit dem extrem hohen Vertrauen, das wir zueinander hatten. Wir wussten, wir können das verantworten.

Gab es vonseiten der Politik keinen Widerstand?

BS: In der betreffenden Aufsichtsratssitzung wurde sehr kontrovers diskutiert. Am Ende hieß es, das Projekt birgt Risiken, ist aber für die Institution Theater sinnvoll. Eine wunderbare Rückmeldung von einem Politiker war, sie hätten in der Fraktion diskutiert, so einen Tausch auch mal mit einer anderen Fraktion zu machen. Als ich das hörte, wurde mir klar, wir haben mit dem Projekt wirklich etwas ausgelöst. Das ist ein Teil des Theaterberufs, Gedankenräume zu öffnen, Mut zu vermitteln.

US: Bei uns war das niederschwelliger, weil wir das klar als Organisationsentwicklungsmaßnahme definiert haben. Das liegt in der Hoheit der Geschäftsleitung. Wir wussten genau, wir können das riskieren.

Wie theatral ist das Wuppertal Institut? Wie wissenschaftlich ist die Oper?

US: Ich nehme Oper auf einer übergeordneten Ebene als sehr wissenschaftlich wahr. Sie setzt sich mit grundlegenden Fragen und Motiven des menschlichen Miteinanders auseinander, mit gesellschaftlichen und persönlichen Spannungen. Sie findet Formen des Ausdrucks, der Beschreibung, der Metaphorisierung, die ein gewaltiger Anregungsraum für uns sind. Das hilft uns, die wir diese Phänomene nur analytisch untersuchen, sie viel reichhaltiger zu verstehen.

BS: Ich würde das WI nicht als theatral bezeichnen, aber als dramatisch. Die Menschen wissen, welche Dimensionen das, worüber sie nachdenken, hat. Sie sind beseelt und von einer Überzeugung getrieben. Sie entdecken, klären auf, beschreiben grundlegende Zusammenhänge, die dramatisch sind. In diesem Spannungsfeld zu leben, heißt, dass ich weiß, wie groß die Probleme sind, und gleichzeitig sehe, wie wenig die Gesellschaft bereit ist, diese Erkenntnisse adäquat aufzunehmen. Das birgt eine große Frustration. Die große Leistung ist, darüber hinwegzukommen und weiterzumachen.

Aus der zeitlichen Distanz ergeben sich inzwischen einige neue Aspekte und Sichtweisen auf das Projekt, die mit aktuellen Ereignissen oder persönlichen Neu bewertungen zu tun haben. Uwe Schneidewind hat im Mai 2020 das Wuppertal Institut verlassen und wurde im September desselben Jahres zum Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal gewählt. Aufseiten der Oper haben sich pandemiebedingt sowie aufgrund der in den letzten Monaten intensiv geführten Strukturdebatte am Theater neue Perspektiven ergeben. Aus diesen Gründen wurde das Interview im Folgenden aktualisierend ergänzt.

BS: Hatte dein Entschluss, dich als Oberbürgermeisterkandidat und jetzt als OB politisch zu engagieren, etwas mit dem Projekt „Wechsel/Wirkung“ zu tun? Wenn ja, kannst du beschreiben, inwiefern?

US: Insofern als „Wechsel/Wirkung“ gezeigt hat, wie wichtig Perspektivwechsel sind. Persönlich, für Organisationen, aber auch gesellschaftlich. Insofern haben mich die Erfahrungen von „Wechsel/Wirkung“ in meinem OB-Beschluss nochmals bestärkt.

BS: Hat das Projekt die Wahrnehmung des Wuppertal Instituts in der Stadt, überregional oder auch international verändert?

US: Das Projekt hat unseren Anspruch, Transformationsprozesse aus kultureller und künstlerischer Perspektive zu betrachten, glaubwürdig unterstrichen und damit unseren Ansatz der „Zukunftskunst“ gestärkt.

BS: Im Nachklang wurde mir bewusst, wie ich durch das Projekt noch einmal fundamental neu die Kraft erlebt habe, die im Fragestellen liegt, und was es nicht geleistet hat: Nämlich in den Kollektiven, wo naturgemäß die größten Verharrungskräfte in den Theatern bestehen, einen direkten Einbezug in die Versuchsanordnung zu realisieren. Auch wenn die Kolleg*innen natürlich Informationen und Reaktionen zu dem Projekt bekamen, bleibt die Frage unbeantwortet: Können wir mit der Institution Theater als Ganzes Veränderungsprozesse trainieren, um uns in die Lage zu versetzen, auf veränderte Anforderungen angemessen und schneller zu reagieren? Dynamiken wie sie das Projekt „Wechsel/Wirkung“ entfacht hat, scheinen mir inzwischen auch extrem hilfreich bei der Bewältigung der großen Herausforderungen, denen die Theater aktuell z. B. in den Bereichen Struktur, Gleichstellung, Diversität und Nachhaltigkeit gegenüberstehen.

Als eine konkrete Folge des Projekts „Wechsel/Wirkung“ steht derzeit der Start eines „Transformationstandems Nachhaltigkeit“ an, bei dem Wuppertal Institut und Theater erneut gemeinsam einen Prozess mit offenem Ausgang angehen.

Das Wuppertal Institut erhält in den letzten Jahren vermehrt Anfragen aus dem Kulturbereich, sich gemeinsam mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Zum einen mit der Frage „Was heißt Nachhaltigkeit für den Kulturbetrieb?“, zum anderen damit, „Welchen Beitrag können Kunst und Kultur leisten, um die Nachhaltigkeits-Transformation gesellschaftlich voranzubringen?“. Dies ist eingebettet in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu einer klimagerechten und ressourcenleichten Zukunft.

Im Zuge des mehrwöchigen Ämtertauschs 2019 zwischen Uwe Schneidewind, als Präsident des Wuppertal Instituts, und Berthold Schneider, als Intendant der Oper Wuppertal, entwickelte sich in beiden Institutionen ein großes Interesse an einem engeren Austausch und gemeinsamen Aktivitäten in Wuppertal. Für das Wuppertal Institut geht es darum, am Beispiel der Wuppertaler Bühnen und Sinfonieorchester GmbH (WBS) die Rolle von Kunst und Kultur als Akteur im Nachhaltigkeitskontext besser zu verstehen und aus dieser Sicht heraus Transformation zu gestalten. Dabei wird Kunst und Kultur als Sparringspartner auf Augenhöhe gesehen und weniger als „Kundengruppe“ adressiert. Die WBS hat Interesse daran, Nachhaltigkeit als neues Feld in der künstlerischen Arbeit stärker in den Blick zu nehmen sowie die eigenen Ressourcen- und Klimawirkungen und Nachhaltigkeitspotenziale zu ermitteln. Dies alles mit dem Ziel, anschließend die entsprechenden Veränderungsprozesse einzuleiten. Vor diesem Hintergrund werden beide Institutionen als Tandem ein Pilotprojekt zum Thema „Nachhaltigkeit im Kulturbereich“ entwickeln und umsetzen.

Uwe Schneidewind prägte den Begriff „Zukunftskunst“, der die Fähigkeit bezeichnet, grundlegende Transformationsprozesse von der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit zu denken und von dort aus institutionelle, ökonomische und technologische Perspektiven zu entwickeln.

Nach wie vor ist jedoch die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit im Hinblick auf die Bedeutung der Künste und des Ästhetischen also auch des Künstlerischen im Nachhaltigkeitsdiskurs und der Nachhaltigkeitsforschung zu wenig berücksichtigt. Vanessa Weber und Gesa Ziemer2 werfen die Frage auf, ob sich in diesem Diskurs die Kunst auf Nachhaltigkeit beziehen sollte und damit den Kodierungen der Nachhaltigkeit mit seiner normativen Ausrichtung als ethisch-moralisches Prinzip folgen soll, oder ob Nachhaltigkeit sich auf Kunst bezieht und darüber die vielschichtigen Sphären künstlerischästhetischen Wirkens in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Voraussetzung für jede künstlerische Diskussion über Nachhaltigkeit auf der Bühne ist eine Position der Aufgeklärtheit des Theaters, die das eigene Handeln kritisch durchleuchtet hat.

Übergreifende Fragestellungen des Tandems können sein: Wie können sich Nachhaltigkeitsforschung und Kultur gegenseitig inspirieren, Nachhaltigkeits-Transformation zu gestalten? Und an welcher Stelle tut es gut, Kreativität walten zu lassen und die Normativität einer nachhaltigen Entwicklung hintenanzustellen?

Der partizipative und transformative Charakter zeigt sich darin, dass Bezüge zum Reallabor-Ansatz aus der transformativen Forschung hergestellt werden. Um dies zu ermöglichen, folgt der Prozess dem Prinzip der Co-Kreation: D. h. die beiden Institutionen designen auf Augenhöhe den Prozess. Das Wuppertal Institut (WI) gibt erfahrungs- und wissensbasierte Vorschläge, lässt jedoch Raum für eigene Ansätze der WBS, und die Festlegung des Prozesses geschieht gemeinsam. Alle sind dabei Lernende und zusammen auf der Suche nach dem idealen Ergebnis.

Im Zuge der Entwicklung des Nachhaltigkeitsansatzes werden Instrumente des Nachhaltigkeitsmanagements in Unternehmen/Institutionen sowie etablierte Standards und Richtlinien der Nachhaltigkeitsberichterstattung (wie z. B. Deutscher Nachhaltigkeitskodex) und des Carbon-/Material Foot-printings aufgegriffen und an die Realität der WBS angepasst. Dabei wird eine Blaupause für die Erarbeitung von Nachhaltigkeitsstrategien im Kulturbetrieb geschaffen, um letztlich auch die Übertragbarkeit der Prozesse auf andere Kulturbetriebe zu ermöglichen.

Im Mai 2020 trat Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick das Amt des Wissenschaftlichen Geschäftsführers am Wuppertal Institut an. Das Wuppertal Institut ist einer der weltweit führenden Thinktanks im Bereich Nachhaltigkeit. Die Besonderheit des Instituts besteht darin, dass es stark interdisziplinär arbeitet, politisch wirksam sein will und seinen Blick nicht auf die rein ökologischen Aspekte von Prozessen beschränkt, sondern z. B. immer auch soziale, wirtschaftliche und politische Faktoren in die wissenschaftlichen Analysen mit einbezieht.

BERTHOLD SCHNEIDER: Welches Potenzial seht ihr in der Zusammenarbeit mit einer Kulturinstitution beim Thema Nachhaltigkeit?

MANFRED FISCHEDICK: Ein sehr großes Potenzial, da hierbei zwei Kulturen aufeinanderstoßen, die sehr viel miteinander und voneinander lernen können. Wir beschäftigen uns manchmal etwas trocken mit Zahlen und Szenarien, insofern können wir sehr von einem lösungsorientierten-kreativen Ansatz profitieren, die Kunst und Kultur mitbringen.

BS: Können inhaltliche Impulse in Kilogramm CO2 umgerechnet werden?

MF: Das ist natürlich schwierig. Es ist immer einfacher umzurechnen, wie viel Kilogramm CO2 durch eine Solar- oder Windenergieanlage gespart wird. Diese weicheren Faktoren, bei denen es darum geht, in der Zusammenarbeit mehr Menschen zu erreichen, sie über ihr Konsumverhalten nachdenken zu lassen, können natürlich nur schwer in Kilogramm festgehalten werden. Dafür bräuchte es dann große empirische Analysen, für die meistens keine Zeit besteht. Das sind die versteckten Kilogramm, die man nicht so einfach berechnen kann, die am Ende aber unglaublich wichtig sind, um gesellschaftliche Ziele, wie z. B. den Klimaschutz, erreichen zu können.

BS: Wenn man diese Faktoren nicht direkt berechnen kann und es gleichzeitig zu aufwendig ist, sie indirekt zu berechnen: Fallen die dann nicht argumentativ unter den Tisch?

MF: Das ist genau das Problem, sie fallen heute tatsächlich einfach unter den Tisch. Denn man schaut sich üblicherweise bei Aufstellungen über die CO2- oder Energiebilanzen an, wie viel Strom oder Erdgas gebraucht wird und vielleicht, wie der Ausbau an erneuerbaren Energien verläuft, und den Beitrag, den wir dazu geleistet haben. Aber warum an bestimmten Stellen Verbräuche sich gesenkt haben, ist in aller Regel nicht genau erforscht. Dazu ist eben eine Mischung aus unterschiedlichen Bereichen, sozusagen die Sensibilisierung der Menschen in Kombination mit Informationsbereitstellung, notwendig. Das sind diese vielen weichen Faktoren, die essenziell wichtig sind, damit sich etwas verändert. Und dies kann bei der einzelnen Betrachtung sehr schlecht gemessen werden, womit dementsprechend ihre Wirkung in der Bilanzierung dann auch untergeht.

BS: Habt ihr im Hinblick auf die Nachhaltigkeit eine Bitte an die Kulturinstitutionen?

MF: Wir haben die große Bitte, einfach enger zusammenzuarbeiten. Ich glaube, wir benötigen die Kultur, um neue Zugänge zu denjenigen zu schaffen, die sich bisher mit Nachhaltigkeitsfragen weniger beschäftigt haben. Wir brauchen die Kultur aber ebenfalls, um die Nachhaltigkeitsforschung mithilfe anderer Methoden und neuer Ansätze für kreative Lösungen zu öffnen. Deswegen setzen wir auf eine intensive Zusammenarbeit der Kunst und Kultur mit der Nachhaltigkeit in der und für die Zukunft.

1Uwe Schneidewind: Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, S. 23.

2Gesa Ziemer und Vanessa Weber: „Urbanität kuratieren. Plädoyer für einen erweiterten Nachhaltigkeitsbegriff durch Kunst“. In: Jeschonnek, Günter (Hg.): Darstellende Kunst im öffentlichen Raum. Theater der Zeit, Berlin 2017, S. 436 und 440.

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