Auftritt
Schauspiel Köln/Düsseldorfer Schauspiel: Goetz, Geißel der Gier
„Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft“ nach dem gleichnamigen Roman von Rainald Goetz - Spielfassung Stefan Bachmann und Lea Goebel, Regie Stefan Bachmann, Bühne Olaf Altmann, Kostüme Jana Findeklee und Joki Tewes, Choreographie Sabina Perry, Musik Sven Kaiser
von Stefan Keim
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Stefan Bachmann Düsseldorfer Schauspielhaus Schauspiel Köln

Er ist erschienen. Zehn Jahre hat der Schriftsteller Rainald Goetz Auftritte in der Öffentlichkeit vermieden. Nun hat der 68-jährige eine Rede vor dem Berliner Wissenschaftskolleg gehalten und dem Onlinetrend trotzend die Printmedien gefeiert. Wenige Tage später saß er in einer Theaterpremiere. Die Schauspielhäuser in Köln und Düsseldorf haben in einer Koproduktion den zehn Jahre alten Roman „Johann Holtrop“ auf die Bühne gebracht. Goetz hat lange trotz mancher Nachfragen die Rechte für eine Theaterfassung nicht rausgerückt. Er war aber von Stefan Bachmanns Inszenierung seines Stücks „Reich des Todes“ so angetan, dass er dem Regisseur und baldigen Burgtheaterintendanten nun den „Johann Holtrop“ anvertraute.
Die Bühne ist voller Fäden. Als ob jemand die Stäbe einer Gefängniszelle aus weichgekochten Spaghetti hergestellt hätte. Sie lassen sich teilen, sind kein Bewegungshindernis. Aber sie verhängen den Blick, selten kommen die Spielerinnen einmal direkt vor das Publikum.
Regisseur Stefan Bachmann erzählt die Geschichte des Managers Johann Holtrop mit einem achtköpfigen Frauenensemble. Hinter dem Titelantihelden steckt die reale Geschichte von Thomas Middelhoff, der erst Vorstandsvorsitzender bei Bertelsmann war und dann den Einzelhandelskonzern Karstadt/Quelle in die Pleite ritt. Middelhoff wurde wegen Untreue in 27 Fällen und dreifacher Steuerhinterziehung verurteilt. Anderthalb Jahre saß er im Gefängnis, dann kam er vorzeitig wieder frei. Für jemanden wie ihn sind Gitterstäbe nicht lange ein Problem. Olaf Altmann ist wieder einmal eine starke und passende Bildsetzung eingefallen.
Rainald Goetz benutzt Middelhoffs Aufstieg und Fall für ein satirisch-boshaftes Porträt der Nullerjahre. Er verschweigt schon auf den ersten Seiten seines Schlüsselromans keineswegs, was er von den Johann Holtrops dieser Zeit hält: „So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig.“ Die Worte sind gleich zu Beginn der Aufführung zu hören.
Die von Stefan Bachmann zusammen mit der Dramaturgin Lea Goebel erarbeitete Fassung präsentiert den Roman gestrichen auf zweieinhalb Theaterstunden ganz werktreu, ohne größere inhaltliche Veränderungen. Goetz geht es nicht um einen psychologisch interessanten Charakter, auch nicht um ein Wechselspiel von Faszination und Lächerlichkeit. Johann Holtrop ist ein Blender, eine hohle Nuss, einer, der nichts von Wirtschaft versteht aber durch Erscheinung und Auftreten mächtige Menschen um den Finger wickeln kann. Melanie Kretschmann spielt ihn mit blonder Kurzhaarfrisur und blauem Anzug.
Hinter den möchtegernmondänen Asspergs, für die Holtrop hier verhandelt, verbergen sich Liz und Reinhard Mohn, die den Medienkonzern Bertelsmann aufgebaut haben. Dagegen tritt Gerhard Schröder direkt auf, als Emporkömmling, dem sein Amt als Bundeskanzler eine unwiderstehliche Aura verleiht. Zumindest in Kreisen des Großkapitals. Nach dem Erscheinen des Romans haben Wirtschaftsjournalisten herausgestellt, dass Rainald Goetz oft die Fakten verdreht oder Begriffe erfindet. Eben das ist Teil seiner literarischen Leistung. Er findet das ganze System derart ekelhaft, dass er ihm nicht die Ehre einer sauberen Recherche angedeihen lässt. Auf der Bühne wirkt die Geschichte von „Johann Holtrop“ wie ein Lehrstück von Bertolt Brecht, dem das positive Element, der Glaube an die sozialistische Revolution fehlt. Was bleibt, ist die ätzende, hinreißend pointierte Analyse einer verkommenen Herrschaftsschicht.
Für die außergewöhnliche Sprache von Rainald Goetz findet Stefan Bachmann eine überzeugende ästhetische Umsetzung. Komponist Sven Kaiser begleitet mit einem Kammermusikquartett die gesamte Aufführung und unterfüttert die Texte mit einer Mischung aus minimal music, Klassik, Jazz und Filmsoundtracks. Die Schauspielerinnen sprechen mal im Chor, mal solistisch auf den Rhythmus der Musik, auch ihre Bewegungen sind exakt choreographiert.
Das wirkt nur auf den ersten Blick künstlich, das überwältigende Ensemble findet eine Menge Feinheiten, Pointen, interessante Details. Da merkt man, dass hier zwei große Schauspielhäuser ihre Kräfte gebündelt haben. So ist der „Abriss der Gesellschaft“ ein ästhetischer Genuss und wirkt angesichts der vielen aktuellen Krisen geradezu tröstlich. Getreu einem Zitat von Billy Wilder: „Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“
Erschienen am 28.2.2023