Theater der Zeit

deutsche oper

Wandertheater der Ratlosigkeit

An der Berliner Deutschen Oper ringt Stefan Herheim mit Wagners „Ring“

von Friedrich Dieckmann

Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Musiktheater Deutsche Oper Berlin

Hundings Haus als eine Kofferburg: Nina Stemme als Brünnhilde in Stefan Herheims Inszenierung von Wagners „Ring“. Foto Bernd Uhlig
Hundings Haus als eine Kofferburg: Nina Stemme als Brünnhilde in Stefan Herheims Inszenierung von Wagners „Ring“.Foto: Bernd Uhlig

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Die Flüchtlinge und der Flügel

Am Anfang jeder „Ring“-Inszenierung stehen die Fragen: Wer sind die Götter? Wer sind die Nibelungen? Was ist das Gold? Es sind diese drei Fragen, durch die sich das monströse, durchaus überkandidelte Opus des in Deutschland steckbrieflich gesuchten politischen Flüchtlings über seine musikalische Substanz hinaus rechtfertigt. Seit George Bernard Shaw nimmt man das Bühnenfestspiel symbolisch und tut es mit Recht: Es ist so gemeint. Es liegt auf der Hand: Die Götter sind die Exponenten der auf Ver­trägen, auf Rechtsverhältnissen beruhenden bürgerlich-feudalen Gesellschaft, die Nibelungen im Plural sind vordergründig Bergwerkssklaven und stehen hintergründig für das ausgebeutete Proletariat in seiner Gesamtheit, das Gold aber ist die Währungsbasis in den Tresoren der Banken. Alberich, der Nibelung im Singular, ist nach dem Ringraub Bergwerksbesitzer, Bankdirektor und – kraft des Tarnhelms – Sicherheitschef in einer Person.

Das ist auf unsere Zeit mühelos übertragbar, doch ist es Brauch geworden, alle diese Positionen aus der jeweiligen Zeit­situation neu zu besetzen. Patrice Chéreau hat das in Bayreuth anno 1976 getan, indem er die ursprüngliche Realbesetzung in ihrer Spannweite vom 19. bis tief ins 20. Jahrhundert kenntlich machte. Jürgen Flimm hat im Jahr 2000 ebendort den Bogen bis in die Gegenwart gespannt; Wotans Büro war bereits mit Computertechnik ausgestattet. Frank Castorf, sich des „Rings“ mit ernsthaftem Humor bemächtigend, entdeckte 2013 in Bayreuth das Öl als den fundamentalen Schmierstoff der Industriegesellschaft; würde nun Bitcoin, die in unterirdischen Stollen magisch generierte Netzwährung, die nächste Stufe der Aneignung sein? Sie gleicht zu sehr dem Tarnhelm, um operntauglich zu sein.

Stefan Herheim, der norwegische Regisseur, hat, sich solchen Weiterungen entziehend, eine vierte Frage gestellt, die nur scheinbar bereits beantwortet war: Wer sind die Zuschauer? Er hat sich nicht mit der Antwort begnügt: die vor der Bühne oder vorm Fernsehapparat Sitzenden. Er wollte noch andere Zuschauer und setzte sie nicht vor, sondern hinter und in das Götter-, Riesen- und Zwergengeschehen: Zu Wotan, dem göttlichen Wanderer, sollten die real existierenden Wanderer unserer entgrenzten Welt treten, koffertragende Flüchtlinge, Vertriebene, Deportierte. Auf der Suche nach einer neuen Heimat ließ er sie Halt machen vor einem großen Flügel, der sich als ein magisches Instrument entdeckte; wenn man einen Ton darauf anschlug, entstiegen dem Innern des schwarzen Gebildes die Protagonisten jener gebietenden Gesellschaftsschicht, von deren Beschlüssen die Zukunft der Wandernden abhing. Zunächst besetzten sie deren Spiele aus ihren eigenen Reihen und griffen dazu nach ­einem grüngebundenen Fundstück, auf dessen Einband man verschiedene Inschriften lesen konnte: „Rheingold“ stand auf dem ersten.

Ganz Gescheite in diesem aus allen Altersklassen und Berufen gemischten Wandervolk der Koffertragenden, in dem jeder einzelne sich als eine genau umrissene Indi­vidualität darstellte, mochten ­davon gehört haben, dass der Urheber der in dem grünen Buch enthaltenen Geschichten in seinem Schweizer Exil ein Konzert gegeben hatte, in dem Franz Liszt am Flügel aus der Partitur gespielt hatte, während der Komponist zusammen mit einer Sopranistin Teile des Werks sängerisch dargeboten hatten. Waren die Exilanten der Jetztzeit etwa auf dieses Instrument gestoßen, dem im Lauf von 166 Jahren – Flügel gewachsen waren? Sogar Alberich, den Herrn der Bergwerke, konnten sie aus ihren eigenen Reihen besetzen, wobei sich die Schwierigkeit ergab, dass die goldglänzende Trompete, die den Unterwasserschatz vorstellen sollte, schon in seinen Händen war, als das Spiel begann. Trug er nicht auch den machtspendenden Ring schon am Finger, den er erst nach dem Raub des Rheingoldes gewinnen konnte? Wenn man die Frage: Wer sind die Zuschauer? auf eine so neuartige Weise zu lösen versucht, wie es hier geschah, bleibt es nicht aus, dass man von Widerspruch zu Widerspruch tappt. Dem Urheber des großen Weltspiels war es in seiner Schweizer Abgeschiedenheit nicht anders ergangen. Theater kommt nicht ohne die Nachsicht der wirklichen Zuschauer aus.

Prinzip Überzeichnung

Aber wie weit muss diese Nachsicht gehen? Der Regisseur hatte an einer späteren Oper des schließlich begnadigten Exilanten, an einem Werk, das im Verlauf von drei langen Aufzügen Rettung in die Absage an die geschlechtliche Liebe setzte, Außerordentliches geleistet; wie würde er es mit den Ekstasen des Gegenteils halten, die in den Ringgeschichten blühten? Es zeigte sich: Er konnte nichts mit ihnen anfangen; darum widerlegte er sie durch Übertreibung. Verkörperung des Erotischen wird auf dem Theater leicht zu Denunzierung, man führt ad absurdum, indem man vergegenständlicht; das Lächerliche ist der Abgrund, in den stürzt, was man glaubt, an den Haaren herbeiziehen zu können. Das Überdeutliche ist der Tod der Poesie wie des Theaters; es macht aus den Mitspielenden – und das sind auch die im Sessel sitzenden Zuschauer – Voyeure. Eine Massenkopulation in Unter­wäsche als Beglaubigung des Reichs der Freiheit, das dem Menschen vor dem Raub des Rheingoldes blühte, kann für eine Kopfgeburt der Anti-Erotik gelten, und nichts anderes ist es, wenn am liebestrunkenen Ende des ersten Aufzugs der „Walküre“ das Geschwisterpaar, das sich mehr als geschwisterlich gefunden hat, auf dem altargleich in die Höhe gefahrenen Flügel seinerseits in Unterwäsche kopuliert.

Was Stefan Herheim vorzüglich kann, sind Ehekräche, falls sich die rechten Singschauspieler dafür einstellen. In Gestalt der Sopranistin Annika Schlicht hatte er die ideale weibliche Besetzung an der Hand; wie diese Fricka, ganz Oberklassendame, mit offensiver Eleganz aus dem allwissenden Flügel auffahrend, dem gleichfalls vortrefflichen Wotan-Sänger Iain Paterson vom Schutzherrn der freien Liebe zum Mörder seines Sohnes umfunktionierte, war sehens- und hörenswert. Die Heimatvertriebenen am Rand der aus zahllosen Koffern aufgetürmten Szenerie sahen ihr gebannt zu wie auch allen weiteren Debatten, die das große Spiel nach der bekannten Losung bot: Das Private ist politisch, und das Politische ist privat.

Stefan Herheim, Regiekünstler und Anti-Erotiker, zeigt im ersten Aufzug der „Walküre“, dieser fulminanten Liebesgeschichte zweier Menschen, die, vom Schicksal früh und grausam getrennt, in einem Moment höchster Gefahr wie im Rausch zueinander finden, noch andere Neuerungen. Hundings Haus ist eine flach gebogene Kofferburg mit Turmstummeln an den Seiten und einer Eingangsöffnung inmitten, die der Aufführung in wechselnden Formationen bis in die „Götterdämmerung“ erhalten bleibt. Bei aller Authentizität des Materials – die braunen Koffer sehen so echt aus wie die von der exzellenten Uta Heiseke eingekleideten Flüchtlinge – ist das eine gänzlich abstrakte Dekoration; sie hüllt die Szene in vorgegebene Trostlosigkeit. Das stimmt zum Stück, schon im 2. Akt der „Walküre“ verkündet Wotan seiner erschütterten Tochter das Ende seiner, der bestehenden Welt, und im Zuschauerraum geht dazu das Licht an. Aber dem Theater tun solche Einheitsdekorationen mit ihrer symbolischen Ambition nicht gut, sie legen sich wie Mehltau über ein Spiel, das doch als ein lebendiges prätendiert wird. Wie schreibt der Regisseur im Programmheft: „Aus wahrer Kunst droht immer künstliche Ware zu werden“. Diese Kofferauftürmung ist künstliche Ware, Ausflucht vor der Vielgestaltigkeit einer Szene, die des Widerstands des Konkreten bedarf. Wagners Festspiel beruht auf einer idée fixe, das ist der Ring, dessen vorgebliche Allmacht sich in immer neuen Entreißungen ad absurdum führt. Herheim versucht, dem Werk mit zwei eigenen idées fixes beizukommen, einem zaubermächtigen Flügel und dem nichtendenwollenden Kofferaufgebot. Aber so kommt man dem Werk nicht bei, so legt man am Ende nur seine Schwächen bloß, nicht seine Stärken.

Sieglinde (die stimmlich vorzügliche Elisabeth Teige) in ihrem Hausfrauengewand ist hier von Anfang an nicht allein, mit ihr auf der Bühne bewegt sich ihr Sohn, der, von dem Berliner Schauspieler Eric Naumann ingeniös verkörpert, eine Zugabe, eine Weiterdichtung des Regisseurs ist: ein verstörter, lauernd-gebückt die Akteure umkreisender Halbwüchsiger, der sich eines Messers bemächtigt hat, mit dem er mal seine Mutter, dann den Eindringling bedroht, der ihn aber allmählich gewinnt, durch Gesten der Zuwendung, die der nach Anerkennung dürstende Knabe emphatisch aufnimmt, um sich alsbald wieder enttäuscht abzukehren, bis er sich schließlich – Hunding hat ihn zweimal mit dem Fuß von sich gestoßen – mit Siegmund im Kreis jauchzend um Sieglinde dreht.

Mit äußerstem Misstrauen beobachtete er zuvor die Annäherung der beiden, die hier, entgegen dem Text, in hohem Tempo vonstattengeht; das nimmt der Szene einen Großteil der Spannung. Das Prinzip Überzeichnung waltet in der ganzen Aufführung; hier führt es zu der Einebnung eines Spannungsbogens. Als Hunding (stimmlich wie darstellerisch glänzend: Tobias Kehrer) im grünen Lodenmantel und mit einer Flinte in der Hand eintritt, kein Unhold, sondern nur ein befremdeter Hausherr, geht die Vorwegnahme so weit, dass Sieglinde schon bald ihre Hand auf die des Fremden legt; unwahrscheinlich, dass Hunding nun einfach zu Bette geht. Er trinkt die ihm von Sieglinde gebrachten Supermarkt-Flaschen (vermutlich Jägermeister) und bietet auch Siegmund (Brandon Jovanovich) eine an.

Das Schwert steckt vorn seitlich im Flügel, alle ziehen mal dran, auch der Knabe. Nach dem Abgang des Hausherrn steigt Sieglinde zu ihrer großen Arie („Eine Waffe laß mich dir weisen“) auf den Flügel, der ihre Ekstase malt, indem er, magisch erleuchtet, mit ihr in die Höhe fährt; auch die Schwertgewinnung bekräftigt sich mit Lichteffekten. Der Knabe ist allem dem mit Begeisterung gefolgt, die Liebenden nehmen ihn wie zur Familiengründung in die Mitte. Aber das hält nicht vor: In ihrem Liebesrausch umarmt Sieglinde den Jungen von hinten, legt eine Hand auf sein Gesicht und schneidet ihm mit der anderen die Kehle durch; er sinkt um und wird unter einem roten Tuch verborgen. Sieglinde, das sich gerettet fühlende Opfer, verwandelt sich in die Täterin; interpretierend schreibt der Regisseur das Stück um.

Hundings und Sieglindes Sohn geistert als Toter auch durch die beiden folgenden Akte der „Walküre“. Am Anfang des zweiten Aktes, ehe die aus der koffertragenden Schar rekrutierten Walküren aus einem dargereichten Gestänge ihre Flügelhelme entgegennehmen, trauert Hunding voller Entsetzen um den toten Sohn, und im dritten Akt, als die von den Walküren geborgenen Kriegstoten (sie liegen als blutbeschmierte Fundstücke in der Kofferlandschaft) auf einmal zum Leben erwachen und ihren Patroninnen handgreiflich nahetreten, taumelt der Halbwüchsige als einer dieser lebenden Leichname durch die Szene. Wotan, hinter Brünnhildes Schild verborgen, ist hier von Anfang an auf der Bühne; als er hervortritt und die die Schwester verbergenden Schlachtmaiden zur Rechenschaft zieht, stehen die erwachten Kriegsmänner mit gefällten Lanzen in deren Rücken; die Vergewaltigung, die sie anfangs noch abwehren konnten, ist nun ihre Strafe. Am Ende des Aufzugs, als Wotan die Lieblingstochter (Nina Stemme singt die Rolle drei Abende lang mit nicht nachlassender Intensität) ­vermittels des Flügel-Aufzugs dem feuerumringten Dauerschlaf übergeben hat, ziehen die Zipfeltücher sich zu einem Trichter ­zusammen, der uns eine Entbindungsszene sehen lässt: Mime hilft Sieglinde bei der Siegfried-Geburt. Stefan Herheim liebt es drastisch.

Aber das Prinzip Überzeichnung bricht sich nicht überall Bahn, es gibt auch zartere Variationen über das vorgegebene Werk, das die Protagonisten, den Klavieraufzug aufschlagend, am magischen Flügel immer wieder zu Rate ziehen, als wüssten sie nicht, wie es weitergeht. Sie handhaben das Buch wie eine ­Zukunftsauskunftsinstanz: Wagner als Kalligraf des Weltorakels. In „Rheingold“ ist es ein hübscher Einfall, die von den Riesen ­entführte Liebesgöttin, die hier eine naive Dorfschöne mit zwei großen goldenen Äpfeln als Brustschutz ist (Flurina Stucki singt sie und kommt später noch einmal als Schlachtjungfrau ins Spiel), in wachsender Wechselneigung zu dem sympathischen Fasolt ­(Andrew Harris) zu zeigen. Sie hat die eitle Göttergesellschaft satt und würde nicht ungern bei den wackeren Handwerkern bleiben, die die Riesen nur spielen; dabei hilft ihnen eine menschenähn­­liche Kofferauftürmung, die sogar das Maul bewegen kann.

Auch in Nibelheim gibt es neue Akzente: Alberichs despotischer Auftritt inmitten der geknechteten Nibelungen zeigt diese als ein schwarzes Heer mit gemalten Totenköpfen unter den Stahlhelmen; als er den Ring drohend gegen sie wendet, heben sie die Arme zum Hitlergruß. Die Neuerung ist eindrucksvoll: die ­Nibelungen nicht als geknechtete Bergsklaven, sondern als unterworfene Armee von Todgeweihten. An anderer Stelle erscheinen sie in der Gestalt der Koffertragenden; sie strecken hilfesuchend die Arme nach den beiden Göttern aus und werden, als diese die Achsel zucken, von Alberich weggescheucht.

Hier zeigt sich ein Weiterdenken des Werks aus dem Wesen von Text und Partitur; gegen diese geht es, wenn Wotan im „Rheingold“-Finale gar nicht in Walhall einzieht. Er ist von der jäh auftauchenden Erda (sie erscheint, von der einspringenden Beth Taylor gesungen, in braunem Plisseerock und medaillon­geschmückter Seidenbluse wie die Chefsekretärin des Weltgeists) so fasziniert, dass er ihr durch den Souffleurkasten in die Unterwelt folgt; die Götterfamilie muss ohne ihn der Burg entgegen­gehen. Auf dem zu einem Trichter zusammengezogenen Prospekttuch erscheint nicht etwa das neue Heim, sondern das Doppelbild zweier Embryonen, auf das Zwillingspaar deutend, das der unternehmende Gott von einer Menschenfrau bekommen wird.

Der preisgegebene Zwerg

Im ersten Akt „Siegfried“ öffnet die zu einer riesigen Halde gestapelte Kofferszenerie unversehens ein breites Maul, um Mimes geräumige Werkstatt erscheinen zu lassen. An der Wand deutet eine Reihe goldglänzender Musikinstrumente auf den Hauptberuf des eifrigen Schmieds, der mit einem dunkelroten Wagner-Barett auf dem Kopf schon in „Rheingold“ auf den Urheber all dieser Geschichten deutete. Das nahm sich ganz lustig aus, aber so ist es hier nicht gemeint; Mime, erklärt der Regisseur im Programmheft, erscheine „in der Maske Richard Wagners und in KZ-Häftlingskleidung“. In der Tat ist Mime (ich schrieb es vor Zeiten) „ein pathologisches Selbstporträt seines Schöpfers – die Entlastung von allem dem, was diesen an sich selbst leiden machte, durch Entäußerung in der negativen Gestalt“. Und fügte hinzu: „Dass dieses Negativ-Porträt antisemitische Züge trägt, ist nicht verwunderlich. Wagner hat es zweifellos schwer gehabt, sich vor sich selbst als ‚Arier‘ zu behaupten – sein Antisemitismus ist, wie noch die meisten Rassenvorurteile, die Projektion eines Minderwertigkeitskomplexes.“

Solche Einsichten auf die Bühne zu bringen, geht meistens schief; dass das hier nicht geschieht, verdankt sich dem 33-jährigen Ya-Chung Huang aus Taiwan, der ein kleiner, zarter Mann mit großem, rundem, Wagner ganz unähnlichem Kopf ist (die ihm ursprünglich angeklebte Hakennase ist entfallen). Er stattet den grauhaarigen Alten mit einer verzweifelten Lustigkeit aus; mit genialischer Intensität gibt er einen pläneschmiedenden Tückebold von realitätsblinder Selbstverliebtheit. Als sein ungebärdiger Zögling steht ihm ein ausladender Riese mit strahlendem Tenor gegenüber: Clay Hilley aus Georgia, stimmlich exzellent, in der ihm ungemäßen Jünglingsrolle zwangsläufig unbeholfen. Ein Fell über dem grauweißen Rock tragend und die Gamaschen mit derben Bändern umwickelnd, ist er ein wandelndes Kostümzitat; Bayreuths erster Siegfried von 1876 war ebenso angetan.

Wenn ihm eine Szene, eine Figur liegt, ist Herheim an ­Genauigkeit der Personenführung nicht leicht zu übertreffen. Das gilt von dem Dialog der beiden altgewordenen Kontrahenten, ­Wotans und Alberichs, die in der Nähe von Fafners Höhle aufeinandertreffen, Repräsentanten zweier niedergehender Weltmächte, die über ihre Zukunft spekulieren. Fafner, den Wotan, seine Neutralität bekundend, vor Siegfrieds Ankunft warnt, gibt als goldglänzender Schalltrichter Auskunft; als der Jüngling ihn dann herausfordert, sieht dieser sich einer ganzen Batterie solcher Trichter gegenüber. Zuvor hat Siegfried, Mime vertreibend, eine Ruhepause eingelegt, bei der ihm das Waldvöglein in Gestalt eines zartgliedrigen Singknaben erscheint; im Hintergrund aber erscheinen weißgekleidet Mann und Frau, einander mit idealischer Geste zugewandt, und vertreten mit riesigen Engelsflügeln auf dem Rücken das von Siegfried berufene Elternpaar. Dazu waldgrüne Projektionen auf den hochgezogenen Prospekttüchern – die Szene kippt in den Kitsch, sie wird offensiv denunziert.

Und der Drache, Krisenpunkt aller „Ringe“? Um ihn erscheinen zu lassen, muss die Kofferhalde abermals ihr Maul aufsperren, in dessen Innern sich zwischen rot illuminierten großen Linsen weißvermummte Gestalten bewegen, aus denen schließlich der Mensch Fafner hervortritt, um sich von Siegfried er­stechen zu lassen. Worauf der Vögleinknabe dem Überwinder mit schwankendem Sopran den Weg hinunter zum Schatze weist. ­Indessen streiten sich Mime und Alberich, wer das größere Anrecht auf Ring und Tarnhelm hat; sie streiten so heftig, dass der erschlagene Fafner wieder erwacht und Ruhe gebietet. Dann kommt Siegfried mit Ring und Tarnhelm zum Vorschein und bemerkt, dass er, vom Drachenblut ermächtigt, Mimes Gedanken lesen kann, die ihm nichts Gutes verheißen. Das führt zu einer grässlichen Szene: Während der Schmied vergnügt seine Mordpläne ausplaudert, legt er die graue Perücke ab, entkleidet sich fast bis auf die Haut und steht schließlich kahlköpfig, wie zum Kinde verjüngt, als schutz- und wehrloser Tückezwerg vor dem Drachentöter, der ihm Notung in den Leib stößt. Was sich hier begibt, ist eine Totaldemontage, die die Figur aller Menschlichkeit beraubt. Worauf sich das Idyll mit Grünprojektionen und Flügelfiguren gesteigert erneuert. Das jugendliche Paar paradiert nun mit schwarzen Flügeln, andere Flügelgestalten treten hinzu, und der weißgewandete Knabe, inzwischen mit Fafnerblut befleckt, springt graziös herum, um mit brüchiger Stimme Weisungen zu erteilen.

Auf dem Walkürenfelsen, der, leicht angehoben, die Kofferhalde ist, findet sich dann wieder die Schar der Flüchtlinge ein, das „Kollektiv der Flüchtigen, Reisenden, Suchenden, Fliehenden“ (Herheim), das das Geschehen mit angespannter Aufmerksamkeit verfolgt. Sie sind nach Kostüm und Physiognomie vollkommen individualisiert, da finden sich Hausfrauen und Angestellte, enttäuscht-neugierige Alte und hochbeteiligte Junge – wer sind diese fabelhaften Kleindarsteller, wer hat sie inszeniert? Als Statisterie der Deutschen Oper fungieren sie im Besetzungszettel – Werktätige, denke ich mir, die sich aus Opernbegeisterung in den Dienst des Hauses stellen. Auch ein heiter gestimmter kleiner Araber mit großem, schwarzem Bart ist dabei.

Die Beschwörung Erdas, die unwillig aus dem Souffleurkasten steigt, findet das äußerste Interesse der Schar; es geht ersichtlich um große Dinge. Marina Prudenskaja gab die Erda einspringend mit aller Genauigkeit, eine zarte Person, die der Wanderer zu Boden wirft, als wäre er derselbe Flegel wie der Enkel, von dem er sich „erlösende Welttat“ erhofft. Erda hat das Interesse an dem Vater ihrer Töchter verloren und lässt sich im Halbschlaf wieder in den Kasten schieben. Immer wieder öffnen die Protagonisten den Flügel, greifen synchron zum Orchester in die stummen Tasten und blicken in den Klavierauszug, als wäre darin die Zukunft verzeichnet. Unterdes vergewissere ich mich des gut lesbaren Textes auf dem Bühnenportal und komme darauf, dass ich nicht eine Theateraufführung erlebe, sondern die Bild- und Tonillustration eines Textbuchs.

Als Wotan den Enkel auf dem Weg zum Weib mit allerlei Fragen aufhält, produziert sich der erhoffte Welterlöser als ein gewaltbereiter Halbstarker; der ihm freundlich begegnende Alte ist hoffnungslos brüskiert. Zwischendurch kommt es Hand gegen Hand zu einer Kraftprobe, bei der Siegfried begreifen müsste, dass dies ein besonderer Wanderer ist. Als Siegfried den sperrenden Speer dann in einem komplizierten Arrangement zerschlagen hat, kommt es zu einer Pantomime zwischen Wotan und dem gleichfalls anwesenden Alberich; von verschiedenen Seiten zeigen beide mit langem Finger auf die Speerstücke, Wotan erleichtert, Alberich triumphierend. Die Herrschaft der Runen, also des Rechts, ist gebrochen, eine neue Welt ist in Kraft getreten. Wagner, der Bakunist, dachte sie sich als die bessere.

Dann wird Brünnhilde auf dem Flügelaltar heraufgefahren, am Rand sind wieder Zuschauer zur Stelle und rücken näher, als Siegfried der reglos, aber mit angehobenem Bein Daliegenden die Brünne aufsäbelt und entdeckt: „Das ist kein Mann!“ Sie treten zuredend auf ihn zu – ein therapeutischer Moment wie auch ihre weitere Anteilnahme, bis hin zu dem Applaus, als er umfangend Mut zu Brünnhilde gefasst hat. Auch die Liebe, zeigt sich, soll vergesellschaftet werden. Aber die nun folgende Entkleidung der Schar geht ins Alberne; zu den Liebesgesängen der beiden auf dem Flügel erscheinen in weißer Unterwäsche acht jugendliche Paare und vertiefen sich in mehr oder minder lebhafte Umarmungen, wie in Vertretung der beiden Singenden, die ihre eigene Leiblichkeit auf Distanz hält; der hingerissene Siegfried wirft herausgerissene Blätter des Klavierauszugs unter die Entzündeten. Am Ende blickt er wie Goethes Waldteufel lächelnd-irritiert zu dem kopulationsfreudigen Völkchen unter seinem Podest, ehe er sich zu den aufschäumenden Schlussklängen wieder Brünnhilden zuwendet.

Am Ende: die Putzfrau

In „Götterdämmerung“, dem stärksten der vier Abende, trat die verhängnisvolle Kofferszenerie zum Heil des Abends zurück; an ihre Stelle trat die dunkelbraune Holztäfelung des Parkettfoyers der Deutschen Oper mit den beweglichen grauen Wolkenfeldern des amerikanischen Plastikers George Baker, die sich in der Folge sowohl vermehrten wie farbig-projektiv belebten. An dem vertrauten Ort flanierte – das Publikum, gleichsam das anwesende, um sich, als die Nornen hereinkamen, erschrocken auf den Boden zu legen. Beim Gesang der Hereingeschneiten erhoben sich einige wieder, wie narkotisiert taumelte man durch den Raum, der später mit einem dämonisch-präpotenten Hagen, einem depressiv-­beflissenen Gunther und einer unauffälligen Gutrune die ränkeschmiedenden Gibichungen aufnahm. Die fantastischen technischen Möglichkeiten des Hauses zeigten sich, als die Szene langsam nach rechts verschwand, um links die Kofferhalde wieder in Sicht zu bringen, den Aufenthaltsort des glücklich vereinten Paars. Inzwischen hat sich ein Teil des Foyerpublikums seiner Kleider entledigt, den Koffern im Vordergrund entnimmt es bunte Umhänge mitsamt Federhelmen und Waffen und verwandelt sich mit ihrer Hilfe in eine gedoubelte Götterversammlung im Illustrationsstil der Wagnerzeit; mit einem in der Mitte thronenden ­Wotan nimmt sie auf einer Tribüne im Hintergrund Platz.

Die Improvisationen einer Laienspielerschar als totales ­Theater auf ultimativem technischem Niveau – es ist ein Witz und nicht eben ein schlechter; ein Äußerstes an technischem wie inszenatorischem Raffinement (Bühnenbild Stefan Herheim und Silke Bauer) legt sich den Schein spielerischer Simplizität bei. Die immanente Paradoxie der Inszenierung kommt hier auf den ­Gipfel und tut es erst recht, wenn Siegfried, von Brünnhilde zu neuen Taten ausgesandt, durch den Flügel hindurch nach unten verschwindet; die Gemahlin winkt ihm in den Fahrstuhlschacht nach. Wenn es im zweiten Akt vor allem mit Festvolk ein Wiedersehen gibt und danach den Schwur der Betrogenen und des ­Betrügers, steigen die Nebengötter von ihrer Tribüne herab, um sich über den Schwurspeer zu beugen, der nicht Hagens eigener ist: Er hat ihn, zur Tribüne hinansteigend, Wotan aus der Hand genommen. Allein bleibt dieser auf der Tribüne sitzen, indes die Herabgestiegenen sich im Volk verlieren.

Wie meisterlich dieser Regisseur Gruppenvorgänge in ­Szene zu setzen weiß, zeigt sich einen Akt später noch einmal an Siegfrieds Rencontre mit den koketten Rheintöchtern, die den Ring von ihm spendiert haben möchten und, als sie ein zweites Mal glatzköpfig als Nonnen der Weissagung auf den Plan treten, abermals zurückgewiesen werden. Beide, Brünnhilde durch die sie in grasgrünem Gewand bedrängende Waltraute und Siegfried durch diese Urbesitzerinnen, bekommen die Chance, sich der fluchbeladenen Fingerzier zu entledigen; der wahrsagende Tondichter richtet hohe Hürden auf, ehe es durch Leichtsinn und Selbstsucht zur Katastrophe kommt. Die ist schon im ersten Akt eingetreten, als Siegfried zusammen mit Gunther auf dem koffergefügten Brünnhildenfelsen erschien, beide im Hochzeitsfrack und mit einer Maske, die eine dämonisch verzerrte Clowns- oder Jokermaske war. Die beiden teilten Siegfrieds Gesangstexte unter sich auf, ein Doppelwesen war zur Gewalttat angetreten. Aber den Ring bekommt nur einer, er wird allen zum Verhängnis.

Die Siegfriedverdoppelung ist wider Text und Logik des Stücks, aber sie hat die Sinnfälligkeit des Expressiven. Gilt das auch, wenn Gunther die Überwältigte nicht an seiner Hand vor das zum Empfang versammelte Volk führt, sondern die liegend in ein weißes Tuch Gewickelte an dem Ende eines zehn Meter langen Tuchs auf die Bühne zieht? Patrice Chéreau hatte hier eine Lösung von elementarer Richtigkeit gefunden: Gunther führte die weißgewandete Brünnhilde als Leidend-Abgeknickte an seiner Hand. Das war drastisch und blieb im realiter Möglichen – warum übernimmt es Herheim nicht? Die Gebote der Zunft verbieten es ihm, sie setzen das Aufbauen auf schon Gefundenem unter den Verdacht mangelnder Originalität. Regie muss heute alles neu und alles anders machen – ist das der Fluch dieses in vielen ­Details durchaus standhaltenden „Rings“?

Er zeigt sich nach Siegfrieds Ermordung, als Herheim den Trauermarsch als Apotheose nicht des toten Siegfried, sondern seines Mörders umfunktioniert. Hagen hat die Insignien des ­Erstochenen – Panzerhemd, Schwert, Helm und Horn – an sich genommen und schwenkt sie triumphierend; dann schneidet er dem Toten den Kopf ab, hält ihn wie eine Trophäe in die Höhe und wirft ihn unter die Jagdgesellschaft. Auch und gerade hier unterliegt er dem Zwang, sich von Chéreaus Bayreuther Inszenierung abzusetzen, der sein Flüchtlingsspiel entscheidende Anregungen verdankt. An zwei zentralen Momenten hatte diese das Volk der Gegenwart als eine vielgestalte Schar einfacher Leute dem Schluss des Werks einbezogen: beim Trauermarsch, als diese den Getöteten trauernd umstanden, und am Ende, als sie zu den Schluss­takten der Musik ratsuchend-hoffnungsvoll langsam nach vorn traten. Herheim stellt das beim Trauermarsch auf den Kopf; im Finale variiert er es, indem er Brünnhilde nach ihrem an Siegfrieds Bahre gesungenen Schlussgesang (dort hat auch Wotan den Ermordeten betrauert) in der diese umstehenden Menge verschwinden lässt; mit flackerndem Fingerspiel imaginiert diese die Flammen. Nur Hagen ist noch auf der Bühne und spricht links am Rand sein: „Zurück vom Ring!“ zu den unsichtbaren Rheintöchtern; dann geht er ins Parkett ab und gibt dem finalen Ton­weben freien Raum.

Dieser verdunkelt sich, ehe aus der Höhe eine bühnen­füllende Batterie rotleuchtender Scheinwerfer hereinschwenkt, die nach Blau changiert, erlischt und danach einem vollständig neuen Bild Platz macht. Es ist der „Rheingold“-Anfang: die leere, bis zum technischen Hintergrund aufgerissene Bühne mit dem schwarzen Flügel inmitten. So sah es aus, als die Koffertragenden eintraten, die, eine lange Reihe bildend, ganz ähnlich aussahen wie die Volksmenge am Ende des Chéreau-„Rings“. Chéreau zu seiner Zeit, Mitte der siebziger Jahre, glaubte noch an Siegfried, er konnte ihn, als René Kollo sich den Fuß gebrochen hatte, sogar auf der Bühne spielen. Herheim glaubt fünfundvierzig Jahre später nicht mehr an die Katharsis der Tragödie, er nimmt den finalen Gedanken der berühmten Inszenierung auf, um dessen Konstellation, die Mut zur Hoffnung machte, zu dementieren. Am Ende der vier Abende ist nichts gewonnen, alles kann von vorn anfangen. Die Bühne ist so leer wie am Anfang; zu den Schlusstakten der Musik fegt eine Putzfrau den Boden und wischt den Staub vom Flügel.

Das Publikum hält danach einige Sekunden inne. Es hat auf engen Sitzgelegenheiten mit musterhafter Disziplin stillgehalten, nun macht es sich Luft in stürmischen, dabei durchaus differenzierten Beifallsbekundungen. Nina Stemme und Clay Hilley werden gefeiert, kaum weniger der imposante Hagen Albert Pesendorfers; sie alle heben gladiatorenhaft beide Arme in die Höhe und applaudieren, sich nach unten beugend, dem Orchester, dessen Chef, Sir Donald Runnicles, als er oben erscheint, denselben Jubelschrei wie die primären Solisten auf sich zieht, und mit Recht; im Dramatisch-Exzessiven wie im deutend-mitgehenden Akkompagnement war hier auch im Orchester festspielmäßige Höhe erreicht. Es stand schließlich selbst auf der Riesenbühne wie auch der Chor und die Statisterie, was ein Verlegenheitswort ist, denn eben dies: statisch, waren diese stumm Beteiligten nicht. Die Deutsche Oper zeigte sich mit diesem neuen, nach pande­mischen Krisen endlich fertiggeschmiedeten „Ring“ (ich sah und hörte den dritten Zyklus Anfang Januar) als ein perfektes Winter-Bayreuth mit über Berlins Grenzen weit hinausgehender Anziehungskraft; sie präsentierte sich nach allen Seiten als eins der leistungsfähigsten Häuser Europas. //

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