Landvermessung: der Osten
Arbeiter ohne Denkmal
Volker Brauns „Die hellen Haufen“ in Rudolstadt
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)
Assoziationen: Thüringen Sachsen-Anhalt Sachsen Akteure Theater Rudolstadt
Die Bühne: eine Fläche mit schwarzen Stapelpodesten. Darauf eine Leiter. Wo bitte geht’s hier in den Himmel? Für die Bergleute, die aus sechshundert Metern Tiefe das Kalisalz holen, ist das keine Frage. Aus der Tiefe leuchtet es hervor. Im Berg verwandelt sich alles, bloße Fakten mischen sich mit der Legende. Das hier ist mehr als ein Job, es ist ein Zur-Welt-Bringen des lange Verborgenen: schwere Industriearbeit und märchenhaftes Glücksuchen zugleich. Ein Labyrinth, in dem man sich verlaufen kann.
Unter Tage, was heißt das? Nicht bloße Nacht, sondern ein anderer Zustand: tief in den Dingen und damit der Oberfläche immer um den entscheidenden Moment Ewigkeit voraus. Unter Tage liegen jene Schätze, von denen diejenigen, die sich in der Tiefe in Gefahr begeben, mehr wissen als die Bewohner der Oberfläche. Von E.T.A. Hoffmanns „Das Bergwerk zu Falun“ bis zu Franz Fühmanns „Im Berg“ reichen jene Versuche, das Geheimnis des Schöpferischen in Bilder zu bringen, die der Zeitrechnung des Berges ebenso gerecht werden wie dem Arbeiter im Berg.
Im Hintergrund sitzen Musiker, im Vordergrund Rentner. Auch sie, die Mitglieder der Rudolstädter Seniorenspielgruppe „Die Entfalter“, sind dabei, denn hier wird ein Thema verhandelt, das vor zwanzig Jahren im Kalibergwerk Bischofferode den Stoff zu einer Komödie bot, das auch die Komödie der erst verkauften und dann zurückverlangten Ehre ist.
Volker Braun hat ein Stück über Bischofferode geschrieben, über Grubenbesetzung und Hungerstreik gegen die von der Treuhand verordnete Schließung eines auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Betriebes, von dem einst 32 000 Arbeiter im streng katholischen Eichsfeld lebten. Da wurde ein Konkurrent der BASF einfach abgeschaltet. Zu DDR-Zeiten hatte die SED hier eher nichts zu sagen, der Pfarrer und der Berg, das waren die beiden Autoritäten, auf die man hörte. DDR war anderswo, so schien es im schwarzen Eichsfeld. Und plötzlich, drei Jahre nach der Vereinigung, ist alles anders: Revolte und Protest liegen in der Luft, die sturen Katholiken erweisen sich als hartnäckige Widerständler, Jakobiner im Kampf gegen das kühl rechnende Kapital.
Was will uns Volker Braun mit seinem Stück „Die hellen Haufen“ zeigen? Ist es bloß ein weiterer Beitrag zur Empörungsliteratur, die derzeit auf billige Weise Konjunktur hat? Steffen Mensching, der DDR-gelernte Politclown und nun Intendant in Rudolstadt, fasst den Text zuallererst als Anklage gegen das Kapital und gegen eine korrupte Treuhandanstalt auf. In seiner Regie wird der anderthalbstündige Abend zu einer politischen Demonstration. Man spricht ständig direkt ins Publikum, Bühne und Zuschauerraum bestätigen sich andauernd gegenseitig. Da scheint es unausweichlich, dass Klage und Anklage den Dauerton vorgeben, man pendelt zwischen Wut und Ohnmacht. Wie hat man uns doch betrogen! Die Inszenierung kommt ohne Distanzen aus: keine Spielräume. Das Publikum wärmt sich im fraglosen Wir-Gefühl.
Jedoch, wer hat wen womit betrogen? Der Kapitalismus zeigt sich 1993 auch in Bischofferode als das, was er ist: auf rücksichtslose Weise profitorientiert. Das war zu erwarten, ebenso wie die Reaktion darauf, die in Bischofferode dann kämpferischer ausfiel als anderswo. Hier wurde der Widerstand organisiert gegen eine bloße Verwertungsideologie von etwas, dessen Wert mehr und anderes ist als der zu erzielende Kaufpreis!
Die verlorene Würde der Arbeiter hat Braun in seiner Erzählung von den drei Werkzeugmachern beschrieben. Wer zählt wie viel, wenn es um das Schaffen von Werten geht, nicht um bloßen Verkauf? Und wie kann er das einmal Verlorene zurückerlangen? „Ihr seid das Salz der Erde“, dieser Vers aus Matthäus 5,13 hat im Kalibergbau immer seine eigene, unverwechselbare Gestalt gehabt. Im monatelangen Widerstand gegen das bloße „Störfreimachen“ von Bischofferode unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten erlangten die Bergleute, die heute keine Bergleute mehr sind, so etwas von ihrer Heimat zurück: die eigene Würde, trotz des verlorenen Kampfes um den Erhalt ihrer Grube.
Brauns Text bestimmt etwas, das in Menschings Regie fast nicht vorkommt: die Frage nach der Gestalt des Arbeiters im geschichtlichen Umbruchsprozess. Das Thema beschäftigt Braun bereits seit Jahrzehnten: „Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate!“ Das schrieb er 1962 gegen die Bevormundungsideologie der SED-Altkader. Aber es war zugleich mehr, zielte auf den Ursprung jenes Produzierens, das Traum und Technik zusammenbringt: „Unsere Gedichte sind Hochdruckventile im Rohrnetz der Sehnsüchte.“
Ähnlich wie Ernst Jünger ist Volker Braun immer dem mythischen Bild des Arbeiters im Verhältnis zur modernen Maschinerie auf der Spur. In seinem „Rimbaud“-Essay verbanden sich Afrika, als Traum vom ganz anderen Zustand, und jener Kommunismus, der das unbedingt Neue will, aber das Alte dabei nicht bloß zerstören darf. Braun, der Dialektiker, der die Widersprüche nie feierte, sondern sich ihnen schreibend aussetzte, spielte in seinem Hinze-Kunze-Roman die Möglichkeit der Selbstzerstörung durch Selbstabschottung durch. Die Regression der Auf-der-Stelle-Tretenden ist das Schicksal aller Revolution, die nicht versteht aufzuhören.
Wenn sich nichts mehr bewegt, dann herrscht bloßer Zerfall. „Die Übergangsgesellschaft“, Brauns Theaterstück zur Vorwendezeit, ließ das Wahrheitsmonopol der Partei in lauter scharfe Splitter zerfallen. Und wohin treiben hier im postsozialistischen Niemandsland „Die hellen Haufen“, der Zug der sich für betrogen Erklärenden? Wer sind sie überhaupt? Das Eichsfeld wählte bei der ersten und letzten freien Wahl in der DDR zu über neunzig Prozent die „Allianz für Deutschland“. Das ist das Bild des Arbeiters am Ende der DDR: kein Hoffnungsträger mehr, keine Emanzipationsgestalt, sondern ein Bankrotteur, dessen massenhafter Ruf „Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, gehen wir zu ihr!“ zum letzten Mal eine geschichtliche Macht erlangte: die der Selbstabschaffung.
Das interessiert Braun hier ebenso wie der Versuch einer nachträglichen Korrektur, das Lernen zur Unzeit, die verpassten Augenblicke der Geschichte. Warum ist man erst blind und wird danach doch sehend? Ist es eine Strafe oder eine Chance – gar beides? Bei Heiner Müller lesen wir in der „Hamletmaschine“ über diesen so gewöhnlich gewordenen Ausnahmezustand: „Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit.“ Aber wo endet er? Da, wo Müller seinen Beobachterstandpunkt einrichtet, „auf beiden Seiten der Front“.
Es gibt keine einfachen Alternativen mehr in der Geschichte, jeder Einzelne ist bereits Teil des Verhängnisses, das ihn trifft: Der Unschuldige wird als Erster schuldig. Dieses Paradox des notwendigen Handels hat auch Braun interessiert: „Der Aufstand, von dem hier berichtet wird, hat nicht stattgefunden.“ Aber er ist denkbar, bleibt denkbar: ein Bild ebenso der Verheißung wie der Drohung, immer beides. //