Theater der Zeit

Inszenierungen

Ödipus im Ruhrgebiet

Die Theater in Bochum, Dortmund und Moers zeigen verschiedene Blicke auf den Klassiker

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Theater Dortmund Schauspielhaus Bochum

Keine Fluchtmöglichkeiten auf der spiegelglatten, leeren Bühne: Das Ensemble von „Ödipus Herrscher“ am Schauspiel Bochum. Foto Michael Saup
Keine Fluchtmöglichkeiten auf der spiegelglatten, leeren Bühne: Das Ensemble von „Ödipus Herrscher“ am Schauspiel Bochum.Foto: Michael Saup

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Das Ensemble hat sich Holzklötze unter die Füße geschnallt. Von der Decke des Schlosstheaters Moers baumeln Halteschlaufen, wie in der U-Bahn. Die Ausstattung spielt auf die Kothurne an, die Bühnenschuhe aus der griechischen Antike, setzt eine ­klare Verfremdung, verweist zugleich darauf, dass es ganz konkret um die Gegenwart geht. Um eine Welt, die sich im Griff einer Seuche befindet. Und um einen König, der selbstherrlich agiert und so seinen eigenen Untergang herbeiführt.

Die Geschichte von Ödipus gehört zu den meisterzählten der Theatergeschichte. Im Ruhrgebiet steht sie gerade dreimal auf den Spielplänen – in Bochum, Dortmund und nun auch in Moers. Das ist kein Wunder, denn die Pest, die gelähmte Gesellschaft, der Umgang mit der eigenen Schuld sind Themen, die sich schnell auf die Gegenwart übertragen ­lassen. Doch genau diese inhaltliche Nähe zur aktuellen Situation könnte eine Falle sein. Denn ­natürlich schrieb Sophokles die Tragödie in einem völlig anderen Kontext. Der Althistoriker Egon Flaig hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass Orakelsprüche in der griechischen Antike keinesfalls eindeutig gesehen wurden. Nur weil Ödipus sie direkt auf sich bezieht und nicht all­gemein politisch versteht, kommt es zu Vatermord und Mutterbegattung.

Ulrich Greb inszeniert „König Ödipus“ in Moers in der griffigen, rhythmischen und klaren Übersetzung Dietrich Ebeners. Und zunächst einmal bietet das Ensemble ausgezeichnetes Sprechtheater. Emily Klinge übernimmt die Rolle der Chorführerin, das an beiden Seiten der Spielfläche sitzende Publikum ist der stumme Chor, also die Bürgerschaft Thebens. Sie stößt Geräusche aus, stellt Fragen, unterbricht die Handlung mit Songs von Franz Schubert bis Bob Dylan, die Regisseur Greb mit dunklen Bässen neu arrangiert hat.

Ödipus ist verkörpert von Roman Mucha, ein energetischer junger Politikertyp, der sich gern für seine vergangenen Verdienste feiern lässt. Er hat ja das Rätsel der Sphinx gelöst, was die Chorführerin oft wiederholt, gefolgt von eingespieltem Applaus wie in einer amerikanischen Fernsehsoap. Matthias Heße spielt Kreon als oberflächlich blassen, olafscholzigen Mann aus der zweiten Reihe, der auf seine Chance lauert und von dem keine Hilfe zu erwarten ist. Ödipus würde sie wohl auch nicht in Anspruch nehmen, er ist kein Teamplayer.

Ebenfalls zu diesem Herrschaftssystem gehört Iokaste, die in dieser Inszenierung ihren eigenen Tod überlebt. Weil Joanne Gläsel nicht nur die Königin spielt, sondern ein Prinzip verkörpert, eine hintergründige First Lady, die an vielen Strippen zieht. Georg Grohmann spielt Teiresias und den Boten, eine Art multipler Influencer, der kritische Fragen stellen darf, solange er damit kein Unheil anrichtet. Die Figur, die alles ins Wanken bringt, verkörpert er nicht. Das tut Ödipus selbst. Er ist der Hirte, der die Taten des Königs aufdeckt. Vor der Verwandlung hat Ödipus die gepflasterte Bühne aufgebrochen und ist in den von gelben Schwaden durchfluteten Raum darunter geglitten. Voller Schleim, nur mit einer Unterhose bekleidet, taucht er wieder auf, wie ein neugeborenes Kind. Nun verändert die Inszenierung ihre Grundstimmung, wird explosiver, körperlicher, gefährlicher. Und ent­wickelt immer wieder Momente boshafter Ironie. Das Schlosstheater Moers bietet eine rundum überzeugende heutige Lesart des „Ödipus“, abgründig, politisch, mit Sprachgefühl und starken Bildern, dabei sehr unterhaltsam. Ulrich Grebs Inszenierung kann mithalten mit der grandiosen Regie­arbeit, die Johan Simons am Schauspielhaus Bochum vorgelegt hat. „Ödipus, Herrscher“ heißt das Stück hier, die Fassung von Elsie de Brauw, Mieke Koenen und Susanne Winnacker gibt der Iokaste deutlich mehr Raum als im Original.

Ödipus ist hier ein ganz anderer Mensch als in Moers. Steven Scharf trägt ein schlabberig sitzendes Jackett über dem nackten Oberkörper und scheint wirklich mehr an der Aufklärung der Geschehnisse als an seinem Machterhalt interessiert zu sein. Leise und eindringlich stellt er Fragen ins Publikum, das auch in Bochum die Gesellschaft verkörpert. Allerdings wartet Ödipus keine möglichen Antworten ab. Die große Bühne ist leer und spiegelglatt. Niemand kann entkommen oder etwas verschleiern, es gibt keine Fluchtmöglichkeiten.

Die Weissagung durch Vogelschau hat Bühnenbildnerin Nadja Sofie Eller und den Videokünstler Florian Schaumberger zu scherenschnittartigen Bildern von Vogelschwärmen vor dunkelrotem Hintergrund inspiriert. Das erinnert an Hitchcocks „Vögel“, eine Bedrohung, von der niemand weiß, woher sie kommt. Die Vögel sind im Kinothriller einfach da und greifen plötzlich Menschen an. Bis zum Schluss gibt es dafür keine rationale Erklärung. Es fällt besonders schwer, solche Ungewissheiten zu ertragen. Mit dieser Assoziation spiegelt die Inszenierung präzise die Erlebnisse während der Pandemie, ohne direkte Verweise zu benötigen. Johan Simons setzt in „Ödipus, Herrscher“ durchaus wirkungsvolle Theatermittel ein. Die Bühne kann sich effektvoll heben und senken, die Japanerin Mieko Suzuki performt live am Bühnenrand einen atmosphärischen Elektro-Soundtrack. Doch im Kern der Inszenierung steht die Sprache, die Monologe und Dialoge bringt das Bochumer Ensemble mit großer Differenziertheit zum Leuchten.

Auch in Bochum lebt Iokaste weiter. Doch anders als in Moers verweigert sie ganz offen ihren Selbstmord, verlässt die Opferrolle, setzt ein feministisches Zeichen. Allerdings nicht als ausgestellter Kommentar, der aus der Geschichte ausbricht. Eine Form, die gerade in so vielen Inszenierungen zu sehen ist, dass sie schon nicht mehr innovativ ist und oft einfach nur nervt. Elsie de Brauw hat auch an der Textfassung mitgearbeitet. Ihre selbstbewusste und eigenständige Iokaste ent­wickelt sich aus kleinen Verschiebungen und Ergänzungen, die zu einem großen Teil von Heiner Müller stammen. So entsteht eine innere Logik der Figur, die keine auf­gesetzten Statements nötig hat.

Bochum und Moers zeigen also ausgezeichnete Inszenierungen der Tragödie, garniert mit Ironie und schwarzem Humor, aber im Kern doch sehr ernsthaft. Im antiken Theater gab es immer auch ein Satyrspiel. So könnte man das Projekt „Ödipus auf dem Mars“ verstehen, das Florian Hein im Studio des Schauspielhauses Dortmund inszeniert hat. Noch im Foyer stürzt ein Mann in Damendress mit goldener Handtasche auf das Publikum zu. Blutbeschmiert ist seine Backe, er berichtet von einem Wildunfall. Der Sprechchor des Theaters – ein sehr engagiertes Laienensemble – tritt auf und nah an die Zuschauerinnen und Zuschauer ­heran. Nur Vokale schwingen im Raum, A, E, I, O, U.

Im Studio angekommen, erwartet das Publikum eine ­Videoperformance im Stil von René Pollesch. Kulleräugig und over the top agierend, referiert das dreiköpfige Ensemble die ­mythologische Vorgeschichte, es gibt auch Szenen einer Therapiesitzung, in der die Wirkung der Ödipus-Story auf Sigmund Freud herbeiassoziiert wird. Struktur und Sinn ergibt das Ganze nicht, das Stück ist eher eine inszenierte Lose-Blatt-Sammlung dessen, womit man sich bei den Proben so beschäftigt hat.

Die eigentliche Geschichte hat das Profiensemble nach Vorbild aus der Wirtschaft outgesourct. Der Sprechchor übernimmt die Erzählung dessen, was im Stück von Sophokles passiert. Konzentriert und ordentlich, doch im Zusammenhang der Inszenierung bleibt es unbefriedigend. Weil eine szenische Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Kern fehlt. Die Befindlichkeiten und Ideen, die das Regieteam und das Ensemble entwickelt ­haben, sind ihnen eindeutig wichtiger als so eine alte Geschichte.

Auf dem Mars – oder in einem an alte Science-Fiction-Filme erinnernden Trash-Weltraum – landet die Aufführung erst am Ende. Da gibt es dann kaum noch Bezüge auf Ödipus, es geht um die Selbst- und Sinnsuche in der Gegenwart. Das Ensemble hat eine große Spielenergie, das macht den Abend erträglich. Doch inhaltlich ist bei „Ödipus auf dem Mars“ wenig zu holen.

So zeigen vor allem die Aufführungen in Moers und Bochum, dass „König Ödipus“ weiterhin eine gute Grundlage darstellt, um Fragen nach dem Wesen der Demokratie, der Schuld des Einzelnen und dem Weg einer geschwächten und verstörten Gesellschaft in die Zukunft zu zeigen. Wie es auch bei einigen weiteren Premieren in den vergangenen Monaten zu erleben war. Ulrich Rasche hat am Deutschen Theater Berlin inszeniert, sein wuchtiger Regiestil erinnert an Bacchanale, auch wenn er sich nicht explizit mit antiken Stoffen beschäftigt. Während Jan Eichberg in Bremen den Text in 70 Minuten durchjagen lässt, in einer Inszenierung, die in vielen Kritiken als eine Art Familienaufstellung beschrieben wird.

Dass sich so viele Theater gerade mit dem „Ödipus“ ­beschäftigen, hat auch etwas Tröstliches. Denn immerhin wird hier angedeutet, dass es eine Gesundung der Gesellschaft geben könnte. Auch wenn viele Inszenierungen dem kritisch gegenüberstehen. Aber „Ödipus“ zu spielen, ist zunächst ein Versuch, ­Hoffnung zu wagen, einen Ausweg aus der Pest und der Lähmung zu finden. Eine Kernaufgabe des Theaters, nicht nur in diesen ­Zeiten. //

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