Theater der Zeit

Auftritt

Burgtheater Wien: Der fünffache Hamlet

„Hamlet“ von William Shakespeare – Regie Karin Henkel, Bühne Katrin Brack, Kostüme Teresa Vergho, Musik Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Chorleitung Alexander Weise

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Ensemblekultur heute – Gisèle Vienne Unheimliche Collagen (10/2024)

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Stefan Bachmann Karin Henkel Katrin Brack Burgtheater Wien

Benny Claessens in „Hamlet“ in der Regie von Karin Henkel am Burgtheater Wien. Foto Lalo Jodlbauer
Benny Claessens in „Hamlet“ in der Regie von Karin Henkel am Burgtheater WienFoto: Lalo Jodlbauer

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Eine der stärksten Szenen hat diese Inszenierung gleich nach der Pause. Da sucht Benny Claessens Hamlet seine Mutter, Königin Gertrud, auf, um sie mit ihrer Mitschuld am Mord an ihrem Gatten, sprich: Hamlets Vater, zu konfrontieren. Aber der Geist ebendieses Vaters funkt ihm wiederholt dazwischen. Man hört und sieht den Geist zwar gerade nicht auf der Bühne (sonst ist er optisch und akustisch massiv präsent in Karin Henkels Inszenierung. Dazu später mehr), erlebt nur, wie sich Claessens den Einflüsterungen, die nur er wahrnehmen kann, nervös zu erwehren versucht und dabei wiederholt selbst ohrfeigt.

„You are insame! There’s nothing there!“, höhnt Kate Strong in schnarrendem Englisch. Und in der Tat: es ist ein verrückter Augenblick –im doppelten Sinne. Denn Claessens wirkt ja wirklich einigermaßen gaga, wenn er so ins Leere brabbelt und fuchtelt. Und doch ist es auch ein irrer Schauspieler-Moment, wie er aus dem Nichts, allein durch darstellerische Kraft und Können, die Präsenz eines Phantoms beglaubigt.

Claessens ist an diesem Abend nicht der einzige Hamlet, aber wahrscheinlich der beste. Karin Henkel besetzt in ihren Inszenierungen einzelne Rollen immer wieder Mal mit zwei oder mehreren Schauspielern, unter denen sie die Texte der Figur dann aufteilt. Sie höre Gedanken und Themen einfach besser, hat die Regisseurin einmal in einem Interview erläutert, wenn sie Charaktere spalte und verdopple. Besonders einleuchtend wirkte dieser Zugriff in ihrer Bearbeitung von Kleists Doppelgänger-Komödie „Amphitryon“ vor gut zehn Jahren in Zürich. Aber auch „Hamlet“ bietet sich durchaus dafür an.

Eine Vielzahl von Persönlichkeiten steckt in diesem Dänenprinzen. Da gibt es den Melancholiker und den Nihilisten. Dazu den Zweifler, den Zauderer, aber auch den Zyniker. Und nicht zuletzt den Choleriker, der in einem Moment des Kontrollverlustes den Falschen ersticht, weil er seinen Onkel König Claudius, den Mörder seines Vaters, im Versteck hinterm Vorhang vermutet, in dem sich lediglich dessen Hofschranze verbirgt.

Die verschiedenen Facetten der Figur – zwischen zögerlich-depressiv und zornig-aggressiv – fächert Henkel auf und schickt dazu gleich fünf meist in Existentialisten-Schwarz gekleidete Schauspielerinnen und Schauspieler ins Rennen. Aus Hamlets Monologen, die oft Selbstgesprächen gleichen, werden so mitunter Dialoge. Überhaupt scheint das Stück hier in Hamlets Kopf zu spielen, angesiedelt in einer surrealen Bühnenlandschaft (Katrin Brack) aus drei kreisrunden, schräg stehenden Plattformen, über denen sich verschiedenfarbige Gewitterwolken ballen.

Der Geist von Hamlets Vater, der dem Sohn aufträgt, seinen Mörder seinerseits zu ermorden, wird seit jeher gern als Ausgeburt von Hamlets Hirn gedeutet. Im Alptraumszenario, das Henkel entworfen hat, sucht er den Dänenprinzen meist in Gestalt von gut zwei Dutzend Schlossgespenstern heim, mit Bettlaken über den Köpfen, in die je zwei Löcher für die Augen geschnitten sind. Das sieht keineswegs so albern aus, wie es die Beschreibung womöglich vermuten lässt, sondern wirkt angesichts der chorischen Sprachwucht dieser vielköpfigen Erscheinung durchaus bedrohlich.

Aber auch eine Reihe anderer Figuren scheint hier Hamlets Denken entsprungen. Seine Geliebte Ophelia beispielsweise oder die Freunde Rosenkranz und Güldenstern, die allesamt von den gleichen Spielerinnen und Spielern verkörpert werden wie der fünffache Hamlet. Als Konzept mag das ist das plausibel klingen. Der interpretatorische Mehrwert hält sich gleichwohl in Grenzen. Dafür ist der Ansatz spielerisch ein Gewinn. Das flinke Figurenwechseln bringt eine Leichtigkeit in den Abend, deretwegen man dem Hamlet-Quintett (neben Claessens: Alexander Angeletta, Katharina Lorenz, Marie-Luise Stockinger und Tim Werths) gern zuschaut. Da lässt es sich sogar verschmerzen, dass Jens Harzer, der mal als Gastschauspieler in der Produktion vorgesehen war, noch vor den Proben ausgestiegen ist. Aus persönlichen Gründen, wie betont wird. Soll heißen: nicht wegen künstlerischer Differenzen.

Karin Henkel lotet weniger die existentiellen Fragen um Sein oder Nicht-Sein in aller Tiefe aus. Ihr geht es um Sein oder Schein. Der Abend ist eine Reflexion über die verführerische Kraft der Verstellung. Im Guten wie im Gefährlichen. Gut, weil der Abend pures Theater ist, reines Spiel, das fernab des Realismus seine eigene Wirklichkeit schafft und damit betört. Und gefährlich, weil die Aufführung auch die Form der Verstellung vorführt, die im Zeitalter des Postfaktischen längst gängige politische Praxis der Populisten geworden ist, der immer mehr Menschen erliegen. Auf der Bühne begegnet sie uns in Gestalt von König Claudius, den Michael Maertens brillant als schamlosen Schmierenkomödianten zeichnet, der sich die Welt zurechtlügt, wie sie im gefällt. Die in London geborene Kate Strong als Gertrud bringt, stets zwischen Deutsch und Englisch wechselnd, eine mit britischem Humor gesättigte Kommentarebene ins Spiel, dazu eine gute Portion Shakespeare-Original-Text.

„Something is rotten in the State of Denmark“. Aber auch im Staat Austria ist was faul. In Österreich stehen Ende des Monats Nationalratswahlen an. Die Claudius-Wiedergänger der Gegenwart stehen schon in den Startlöchern. Vor diesem Hintergrund hätte man sich den Abend durchaus noch schärfer, politischer vorstellen können. Andererseits: man muss ja nicht gleich zu Beginn einer neuen Intendanz auf volle Konfrontation gehen und ganz scharfe Kante zeigen.

Die „Hamlet“-Premiere war der Auftakt zur Direktion von Stefan Bachmann, der die Nachfolge von Martin Kušej am Wiener Burgtheater angetreten hat. Der Schweizer Theatermacher ist eigentlich regieführender Intendant, hatte an seiner vorherigen Wirkungsstätte in Köln aber mal eine Debatte um seinen Führungsstil am Hals. Da war es womöglich ein strategisch bewusster Schachzug, die Eröffnung nicht zur Chefsache zu machen. Ganz sicher aber war es eine künstlerisch kluge Entscheidung. Henkels Inszenierung ist unterhaltsam, ohne unterkomplex zu sein. Kein großer Wurf zwar, aber ein einnehmender Abend mit Verve. Und das ist eine ganze Menge am Anfang einer neuen Ära.

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