Landvermessung: der Westen
Über die Rampe springen
Mit kalkuliertem Risiko legt das Theater Aachen seinem Publikum das Haus zu Füßen
Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Hessen Akteure Theater Aachen
Das verflixte siebte Jahr ging erstaunlich gut aus: Im April dieses Jahres meldete das Theater Aachen für die Spielzeit 2011/12 146 000 Zuschauer. Bei einem städtischen Zuschuss von 18,5 Millionen Euro erwirtschaftete das Theater mit Schauspiel, Oper und Konzerten einen Überschuss von 1,3 Millionen Euro. Damit wurde eine Rücklage für künftige Investitionen geschaffen, das Haupthaus ist frisch renoviert, die Schulden dafür abbezahlt. Auch wenn die Kommune seit mehreren Jahren am Nothaushalt vorbeischrammt, ist man bei Einsparungen am Theater ohne Entlassungen ausgekommen, lediglich wurden Stellen nicht neu besetzt und Ausstattungsetats zurückgefahren, die Tariferhöhungen trägt die Politik mit.
Aachen ist eine Stadt, die schnell vertraut und überschaubar wirkt: Elisenbrunnen und Dom, Technische Hochschule und Casino, eine Flanier- und Einkaufsstadt mit dreisprachigem Einzugsgebiet. In der Region konkurriert man mit Landes- und Tourneetheatern, die mit der Eintrittskarte erstandene Freifahrt zu den Vorstellungen ist dauerhaft weggespart, die Verkehrsanbindung in die Nachbarstädte und Gemeinden schwierig. Aachen ist kein Pit-Stop für Kritiker – überregional haben lediglich zeitgenössische Musiktheaterprojekte Beachtung gefunden, und doch ist es eine Aura von kalkuliertem Risiko und wohlwollender Zumutung, die das Haus umgibt.
Der äußerst lebendige Organismus im künstlerischen Zentrum setzt sich zusammen aus dem Generalintendanten Michael Schmitz-Aufterbeck, der Chefdramaturgin Inge Zeppenfeld, die vor zwei Jahren auf die ans Theater Chur abgewanderte Ann-Marie Arioli folgte, und dem Chefregisseur Ludger Engels. Unter den mehr oder minder treffsicheren Spielzeitmottos „Glücklich überleben“, „Expedition Heimat“, „Jenseits der Grenzen“, „Radikal sehnsüchtig“, „Krise? Welche Krise?“, „Werden wir persönlich“ und aktuell „Bewegung in der Mitte“ haben sie wesentliche strukturelle Veränderungen angestoßen und sich auf den (manchmal steinigen) Weg der Vermittlung eines Theaters jenseits von Sparten begeben und mit einer neuen Handschrift der sozialen Verortung Spuren in der Stadt hinterlassen – jede Neuinszenierung hält Ausschau nach möglichen Partnern und Gesinnungsgenossen in der Stadt, mit und ohne Theatererfahrung.
Aachen gilt als konservativ. Eine Sicht, die die Theatermacher nicht teilen wollen. Symptomatischer Auftakt war 2006 die Neueinrichtung der „Europeras 1–4“ von John Cage unter dem Titel „Aachen Musicircus on Europeras“ durch Ludger Engels und Volker Straebel, ein gelungener Versuch, Zuschauer wie Akteure aus Passivität und Selbstversicherung hinauszumanövrieren. In den folgenden Spielzeiten war es „Terror. Revolte. Glück“ nach Texten von Albert Camus, das den Schulterschluss mit der früheren Punkszene in Aachen suchte, und die soziologische Bibelforschung „An den Wassern zu Babel“, das die katholische Hochburg polarisierte, da sich Buch um Buch, Kapitel um Kapitel der Weihrauch verzog und Musikwelten aus verschiedenen Epochen und Stilen aufeinanderprallten.
Das Konzept geht auf: Neben spektakulären Uraufführungen und Sonderprojekten, die allesamt ihren regulären Platz im Abonnement behaupten, spielt das Repertoire mit bekannten Titeln und transportiert Klassiker wie andernorts erprobte zeitgenössische Texte. Strategisch ein kluger Schritt, denn das Publikum spezialisiert sich nicht mehr auf Sparten, die konsequenterweise auch im Spielplan keine Rolle mehr spielen, sondern wechselwählt sich vom Vertrauten ins Unbekannte und umgekehrt. Monika Gintersdorfer und Hans-Werner Kroesinger kommen als Gastregisseure, Albrecht Hirche und Tom Kühnel für ihre ersten Operninszenierungen, Außenprojekte mit dem THEATERausBruch und eine regelmäßige Kooperation mit der Aachener Dependance der Hochschule für Musik und Tanz Köln boxen den Spielplan weiter von innen aus. Gemeinsam mit der Toneelacademie Maastricht und dem Festival Cultura Nova in Heerlen veranstaltet das Theater eine viel beachtete Performance-Night, die wie schon beim Cage-Projekt die Zuschauer in die entlegensten Winkel des Hauses führt und es ihnen zu Füßen legt.
Die bisher größte logistische Herausforderung war wohl in der vergangenen Spielzeit „Tomorrow, may be. Über-Leben in Diktaturen“ in der Regie von Ludger Engels. Ein unbehaglicher Abend über vergangene Diktaturen in Argentinien, Kambodscha und Südafrika, der seine Zuschauer in die ganz lebendige Gallwitz- Kaserne brachte, die von der Bundeswehr als Spielort zur Verfügung gestellt wurde, und dort Phnom Penh und Robben Island wiederauferstehen ließ. Wie alle Aufführungen am Theater Aachen wurde das Projekt von gut besuchten Einführungen und Nachgesprächen eingerahmt, die der ungewöhnlichen Konstellation nicht die Brisanz nehmen, sondern einem inzwischen regen Interesse und Partizipationswillen seitens des Publikums Rechnung tragen.
Rotzig und weit über das Ziel hinausschießend hat die Stammregisseurin Bernadette Sonnenbichler, die auch als Musikerin und für den Rundfunk arbeitet, in dieser Spielzeit „Der gute Mensch von Sezuan“ aufgetischt. In der wie improvisiert daherkommenden Aufführung wird besonders deutlich, wie sehr die Qualität des Hauses auf einem ebenso versierten wie divergenten Ensemble aufbaut, das offensichtlich Spaß daran hat, Überschreitungen in alle Richtungen mitzumachen, und eine hohe Flexibilität aufweist. Ohne Berührungsängste und falsche Rücksichtnahmen schleust Sonnenbichler die Forderung nach zum Beispiel bedingungslosem Grundeinkommen in Brechts Theater und motzt das klassische Stück nicht nur musikalisch auf, sondern entschlackt es auf der schauspielerischen Ebene gleichzeitig so, dass die Figuren leicht über die Rampe springen.
Auf die erfolgreiche Uraufführung von Detlev Glanerts „ Nijinskys Tagebuch“, eine Oper für Sänger, Schauspieler, Tänzer und Instrumente, 2008 folgte zuletzt „Superflumina“ von Salvatore Sciarrino. Die handgezählten Aufführungen des spröden und sperrigen Porträts einer verlorenen Seele, die auf einem umtosten Bahnhof nach einer letzten menschlichen Begegnung sucht, wurden zum Publikumsrenner. Am Erfolg dieser „Superflumina“ lässt sich leicht ablesen, was sich in sieben Jahren Intendanz von Michael Schmitz-Aufterbeck bewegt hat – eine Aufführung wie diese wäre vorher nicht möglich gewesen. Aber inzwischen sind in Aachen die Spartenpole weggeschmolzen – innen wie außen.
Zu verdanken ist dies nicht zuletzt der Arbeit des Regisseurs Ludger Engels, der wie kein anderer ästhetisch das Haus geprägt hat. Unterm Strich ein Regisseur, der die Arbeit – sei es mit Sängern oder Schauspielern – liebt und unentwegt schürft, um an den Kern zu gelangen. Zu seinen wichtigsten Einflüssen zählt er die Zusammenarbeit mit Elke Lang im Theater am Turm und Harry Kupfer in Wien. Er selbst begann seine Laufbahn als Musiker – und Wissenschaftler: Er forschte zur Entwicklung der Musiktheater im Ruhrgebiet nach dem Krieg und wie diese im Krebsgang auf Sparten und Standorte pochten, bevor er sich endgültig für die Praxis entschied. Seine Aufführungen für das Schauspiel – am 17. Mai hat seine Inszenierung von „Hedda Gabler“ Premiere – sind ebenso musikalisch veranlagt, wie seine Opernaufführungen anpeilen, was Musiktheater heute sein kann: Ausbrechen aus Konventionen, aus der wieder grassierenden Bebilderungsflut, der reinen Narration. Er hat ein Anliegen, das sich aus einem urpolitischen Verständnis von Theater zehrt:seine Zuschauer mit hineinzuziehen und in dem Stück leben zu lassen. //