Archiv
Die Spurensucher
Die Szenografin Franziska Ritter und die Theatermacher Melanie Mohren und Bernhard Herbordt über die Verlebendigung von Archiven
von Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Franziska Ritter, Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)
Assoziationen: Berlin Akteure Dossier: Theater & Archiv
Visionäre Entwürfe in Kunst und Gesellschaft teilen mitunter ein grausames Schicksal: Landen sie einmal im Archiv der Geschichte, fällt der Staub des Vergessens über sie. Das – so schwor es sich ein interdisziplinäres Team um die beiden Szenografen Franziska Ritter und Pablo Dornhege – darf nicht sein! In den vergangenen Monaten ist unter dem Dach der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft im Forschungsprojekt „Im/material Theatre Spaces“ eine spektakuläre Arbeit entstanden: Das legendäre Große Schauspielhaus Berlin, 1919 von Max Reinhardt und Hans Poelzig entworfen und nach bewegter Baugeschichte Mitte der achtziger Jahre abgerissen, ist seit Kurzem wieder begehbar – als immersive Virtual-Reality-Experience. Noch weiter zurück in der Zeit reisten Melanie Mohren und Bernhard Herbordt, Initiatoren der Performance-Serie „Die Gesellschaft“. Im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft fahndeten sie nach Akten, die dort seit cirka 1900 lagern. Inhalt vieler Schreiben: faszinierende Gesellschaftsutopien, die jedoch nie das Licht der Welt erblickten. Stattdessen ziert sie ein Stempel: „Spinner!“.
Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Franziska Ritter, Sie beschäftigen sich in Ihren Projekten derzeit intensiv mit dem Thema Archiv. Der Gedächtnisforscher Harald Welzer hat vor einigen Jahren in einem Interview mit Theater der Zeit die These aufgestellt, dass in unserer sowieso so materiell konnotierten Kultur Archivarbeit, also das Konservieren des Materiellen, auch kontraproduktiv sein könne. Selbst das Internet übersetze permanent Nichtvorhandenes in Vorhandenes. Daher solle man doch lieber das Vergessen konservieren. Fühlen Sie sich davon provoziert?
Melanie Mohren: Nein, denn wir arbeiten in unserem Projekt „Die Gesellschaft“ ja vor allem mit den Lücken von Archiven, also mit dem, was nicht gespeichert, was vergessen wurde. Archive sind machtvolle Apparaturen. Ihre Ausschlussmechanismen offenzulegen, ist unser Ansatz.
Bernhard Herbordt: Uns geht es auch vielmehr um die Anwendung. Wir sammeln und archivieren nur, um Apparaturen und Settings zu erfinden, die helfen könnten, das, was gesammelt wurde, um- oder auch fortzuschreiben. Es handelt sich – extrem gedacht – also um Prozesse, die das, was es einmal gab, auslöschen. Insofern ist das Vergessen auch Teil unseres Archivierens. Die Umschreibung ist wichtiger als das eigentliche Artefakt.
Franziska Ritter: Da kann ich nur zustimmen! Gerade die Lücken sind ja das Spannende an einem Archiv, also das, was verschollen ist, was nicht gesammelt oder sogar bewusst ausgelassen wurde. Ich hatte vor einigen Jahren im Rahmen der Digitalisierung der Theaterbausammlung im Architekturmuseum der TU Berlin mit einer sehr politisch konnotierten Sammlung zu tun, die 1939 im Auftrag von Generalbauinspektor Albert Speer für das Handbuch „Das Deutsche Theater“ angelegt wurde. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Warum wurden von den Nationalsozialisten genau jene Theaterbauten dort dokumentiert und andere nicht? Welches Bild vom deutschen Theater sollte damit erzeugt werden? Für mich sind derartige Befragungen die Ankerpunkte für einen Einstieg ins Archiv. Unsere Aufgabe ist es, die Erzählungen, die in den Sammlungen schlummern, zu entschlüsseln und aus heutiger Sicht neu zu befragen.
So haben Sie kürzlich anhand von Archivmaterialien gemeinsam mit einem interdisziplinären Team das Große Schauspielhaus Berlin rekonstruiert – als spektakuläre Virtual-Reality-Experience. Der Zuschauer kann sich, ausgestattet mit einer VR-Brille, von drei Figuren aus dem Jahr 1927 – dem Beleuchter Otto Kempowski, der Revue-Diva Fritzi Massary und dem Zuschauer Walter Schatz – durch das 1919 von Max Reinhardt und Hans Poelzig entworfene Haus führen lassen. Warum sind virtuelle Führungen durch ein Gebäude von 1919 für uns heute interessant?
Ritter: Das Große Schauspielhaus ist gerade für uns Theaterforscher eine der Ikonen der zwanziger Jahre und als eines von wenigen gebauten Beispielen Sinnbild für den Aufbruch in eine neue Ära. Was Heinrich Tessenow und Adolphe Appia 1911 mit dem Festspielhaus in Hellerau begonnen hatten – die Abkehr von der Guckkastenbühne, die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum, quasi die Auflösung der vierten Wand – und mit Walter Gropius’ Vision eines Totaltheaters Utopie blieb, wurde 1919 durch Reinhardts und Poelzigs Umbau des Schauspielhauses als Reformbewegung baulich manifestiert.
Die Bühne ragte mehrere Meter in den Zuschauersaal, was zu dieser Zeit ungewöhnlich war …
Ritter: … ja, ein komplexes System aus Hauptbühne, Vorbühne und zusätzlich sechs stufenlos fahrbaren Podien in der Mitte der Arena ermöglichte das Spiel inmitten des Zuschauerraumes. Wir Architekten kennen natürlich die Baugeschichte des Hauses, aber ich habe beispielsweise über die Figur der Fritzi Massary gelernt, ganz neu auf dieses Gebäude zu schauen. In der VR-Inszenierung reisen wir zurück ins Jahr 1927 und erleben den Premierenabend der Operette „Madame Pompadour“. Mit den drei Protagonisten, denen der VR-Besucher folgen kann, werden große Teile des Gebäudes aus verschiedenen Perspektiven erfahrbar gemacht. Es ist also keine reine Architekturführung im klassischen Sinn, sondern wir bekommen über die Erzählungen der Figuren Einblicke in den gesellschaftspolitischen Kontext der Zeit, in die künstlerische Programmatik.
Gleichzeitig lernen wir verschiedene Berufsbilder kennen, werden Zeuge der Arbeitsbedingungen sowie der herausragenden technischen Innovationen zu der Zeit. Der junge Beleuchter Otto Kempowski zum Beispiel – der mit uns das Haus hinten über den Maschinisteneingang betritt – ist ganz aufgeregt, weil er das erste Mal am Verfolger stehen wird. Deswegen muss er auch zunächst einen Abstecher in die Kantine machen. Oben auf der Beleuchtergalerie wiederum sehen wir den Wolkenapparat in Aktion. Spektakulär projiziert er vorbeiziehende Wolken auf den Rundhorizont. Im Foyer des Schauspielhauses ist ein Electrolux-Staubsauger ausgestellt, so wie heute im Foyer des Friedrichstadt-Palastes, dem Nachfolgerbau, teure Autos präsentiert werden. Die Verknüpfung von Theater und Wirtschaft war also auch damals schon ein Thema.
Melanie Mohren, Bernhard Herbordt, Ihre erste Projektreihe unter dem Label Die Institution trug ganz programmatisch den Namen „Alles was ich habe #1–5“, eine Art Archiv und Arrangement von Alltagsgegenständen. In Ihrer aktuellen Arbeit „Die Gesellschaft“ geht es um sogenannte Spinner-Akten, die Sie im Archiv der Max- Planck-Gesellschaft gesichtet haben. Wie findet bei Ihnen die, wie Sie eingangs sagten, „Anwendung“ durch den Zuschauer statt?
Mohren: „Alles was ich habe“ war ein performativer Baukasten, eine inszenierte Ausstellung. Der erste Raum bestand aus meterlangen Listen, auf denen sich alle Objekte, Geschichten, Personen, Klänge oder Dinge inventarisiert fanden, die erst in den nächsten Räumen sichtbar wurden oder auch in der Ausstellung gar nicht zu sehen waren. Zudem gab es 170 dem inventarisierten Material zugeordnete Fragen. In den folgenden Räumen materialisierten sich diese Listen entlang der Fragen in Form von Tonspuren, Zetteln, Gegenständen und so weiter. Das Publikum konnte auf diese Weise im Gehen eigene Narrative kreieren.
Herbordt: Bei den Spinner-Akten handelt es sich um Vorschläge für Institutsneugründungen, die in den vergangenen 120 Jahren an die Max-Planck-Gesellschaft beziehungsweise vormals die Kai- ser Wilhelm-Gesellschaft herangetragen, aber nie realisiert wurden. Es wird in diesem großen und mächtigen Archiv interessanterweise also etwas archiviert, was eigentlich nicht archiviert werden kann, da es nie verwirklicht wurde. Dieser Fund allein ist schon ein tolles Artefakt: Er materialisiert etwas, was nicht zu materialisieren ist. Wir haben daraus eine Performance- oder eher Laborreihe entworfen, zu der wir unterschiedlichste Menschen eingeladen haben – Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen, aber auch das Publikum – um uns ausgehend von den Akten gemeinsam zu fragen, welche Forschungseinrichtungen man heute der Max-Planck-Gesellschaft oder irgendeiner anderen fiktiven Stelle zur Gründung vorschlagen müsste. Möglicherweise wird Anfang Juli, wenn es zur Abschlussperformance kommt, auch gemeinschaftlich entschieden, dass es gar keiner neuen Forschungsgesellschaft bedarf.
Immerhin ist in den Akten die Formel zu Erlangung des stabilen Weltfriedens zu finden!
Mohren: (lacht) Ja, leider wurde die Gesellschaft, die dem nachgehen wollte, nicht gegründet. Aber damit landen wir wieder beim Theater: bei der Frage, was wäre gewesen, wenn … Wie würde unsere Gegenwart oder Zukunft aussehen, wenn diese Ideen, diese wunderbaren Entwürfe nicht abgelehnt worden wären? Spekulationen dieser Art finden wir extrem reizvoll.
Gleichzeitig werden aber auch Ausschlüsse sichtbar. Wer wird abgelehnt? Und vor allem: Wer taucht als Antragsteller:in erst gar nicht auf? Hochaktuell, wenn wir uns in den heutigen Institutionen und Forschungseinrichtungen umschauen. Da stellt sich schon die Frage, warum in den vergangenen 120 Jahren so wenig passiert ist.
Was hat Sie noch überrascht?
Herbordt: Es gab beispielsweise die Idee eines europäischen Mütterrates, ein in den fünfziger Jahren über zwei Jahre hinweg immer wieder gestellter und ergänzter Antrag. Alle Staaten in Europa, so die Idee, sollten die Hälfte ihres Verteidigungsbudgets zur Verfügung stellen, damit sich ein europäischer Mütterrat konstituiert, der bei regelmäßigen Treffen politische Szenarien entwirft, die, basierend auf den Erfahrungen von Müttern, friedvoller sind als das Vorgehen von Verteidigungsministern. Statt kriegerische Aktionen einzudämmen, hätte man mit der Hälfte des Geldes Kriege gleich komplett verhindert …
Mohren: … mit dem Nachsatz natürlich: Perspektivisch beantrage man die andere Hälfte des Geldes auch.
Ritter: Kann man das noch mal einreichen? (lacht)
Herbordt: Tatsächlich geht es in vielen Vorschlägen um Friedensbewegungen, auch die Formel für den stabilen Weltfrieden beruhte darauf, überkonfessionelle und überstaatliche Gruppen zu bilden, die, psychologisch geschult, in Krisenregionen reisen, um zu intervenieren, bevor es zu Kriegen kommt. In dem Antrag wird sehr detailliert beschrieben, wer alles beteiligt sein muss, damit eine solche Delegation überhaupt deeskalierend wirken kann. Es gab in den zwanziger und dreißiger Jahren aber auch verschiedenste Vorschläge, die die gesamte Nachhaltigkeitsdebatte vorweggenommen haben. Letztlich aber fehlte das Geld, es gab die Weltkriege …
Finden sich außer dem Spinner-Stempel in den Akten Begründungen, warum welcher Antrag abgelehnt wurde? Gab es eine Jury oder ein Expertengremium?
Mohren: Es ist tatsächlich sehr interessant nachzuverfolgen, wie ernst die Schreiben genommen wurden und an welche Größen der Zeitgeschichte sie zwecks Expertise gingen. Hinter einigen Vorschlägen steckten vielleicht eher Krankheitsbilder, Menschen, die, in Wahnvorstellungen gefangen, immer wieder an Otto Hahn geschrieben haben. Trotzdem wurden alle Schreiben ernsthaft geprüft und von Kollegen – hier brauchen wir nicht zu gendern – begutachtet. Der Spinner-Stempel wurde also offenbar nicht leichtfertig vergeben. Ich meine: Wie viele Anträge hat die gesamte Künstler:innenschaft schon geschrieben? Wird man da auch mit einem Spinner-Stempel versehen? Das Projekt erzeugt tatsächlich auf ganz vielen Ebenen Resonanzen.
Wahnsinnig spannend waren auch Projekte, die dezidiert Institute entwarfen: Architektur, Einrichtung, Finanzpläne, Geschirr – alles komplett durchgeplant. Vor dem Hintergrund unserer Beschäftigung mit Institutionen war es sehr aufschlussreich mitzuverfolgen, wie damals neue Instiutionen gedacht wurden.
Herbordt: Da gab es zum Beispiel eine Liste an Dingen, die für die Einrichtung einer biologischen Forschungsstation am Amazonas gebraucht wurden: unzählige Apparaturen bis hin zu einem Boot, um den Amazonas hoch- und runterzufahren. Auch auf das Grammofon wollte man nicht verzichten, und sogar die eigenen Arbeiter:innen sollten mit, um Häuser zu bauen, die angeblich länger stehen. Darin bildet sich natürlich auch Kolonialgeschichte ab.
Gab es, Frau Ritter, in den Planungsphasen des Schauspielhauses auch Momente, wo Reinhardt und Poelzig als Spinner bezeichnet wurden?
Ritter: Vielleicht nicht als Spinner, aber ein gewisser Größenwahn spielte bei diesen beiden Herren durchaus eine Rolle beim Entwurf dieses gigantischen Theaters mit seinen über 3000 Plätzen. Und wie jeder gute Entwurf entstand die erste Bleistiftskizze auf einer Serviette, die heute im Archiv des Friedrichstadt-Palastes sogar noch erhalten ist. Allerdings fehlt die rechte obere Ecke – und auch hier lädt uns mal wieder eine Leerstelle zu einem Gedankenspiel ein: ob dort eine noch utopischere „Spinner“-Version des Entwurfs zu sehen war oder die Schätzung der Baukosten? Das bleibt ein Geheimnis.
Was mir im Zuge der Recherche aber auch auffiel: Eigentlich spielte Poelzigs Mitarbeiterin und spätere Ehefrau Marlene Moeschke für die Entstehung dieses Baus eine tragende Rolle. Als Bildhauerin war sie bekannt für ihre organische und skulpturale Formgebung. Von ihr stammen viele Ausstattungsdetails, zum Beispiel die großartigen palmenartigen Säulen in den Foyers. Poelzig war zu der Zeit noch Baustadtrat in Dresden, der Umbau 1919 erfolgte in rasanten neun Monaten, sodass viele Termine auf der Baustelle durch Marlene geleitet wurden. In einem Folgeprojekt würde ich gerne ihre Geschichte erzählen.
Wie das Institut am Amazonas wurde auch das virtuelle Schauspielhaus akribisch genau mit Inneneinrichtungen wie Plakaten, Scheinwerfern, Türknäufen ausgestattet, die ursprünglich aus den Archiven des Stadtmuseums Berlin und des Friedrichstadt-Palastes stammen. Wie erfolgte die Übertragung dieser realen Gegenstände in den digitalen Raum?
Ritter: Das war auch für uns eine sehr spannende Forschungsfrage: Wie schaffen wir es, ein real existierendes Objekt in den digitalen Raum zu überführen und dabei möglichst dicht am Original zu bleiben …
… einem Original, dem man im Museumskontext ja auch eine gewisse Authentizität und Aura zuspricht, die möglicherweise im Digitalen verloren geht.
Ritter: Genau. Wie können wir die Spuren auf einem Objekt, die ja eigentlich wesentlich für die Entfaltung seiner Geschichte sind, in den digitalen Raum transferieren? Dazu haben wir verschiedene Versuche unternommen. Kleinere Objekte wurden als dreidimensionale Objekt-Scans digital erfasst, bei sperrigen und komplexen Objekten stellten wir fest, dass es leichter ist, sie auf Basis von Fotos und Zeichnungen zu rekonstruieren. Wie beim Wolkenapparat, von dem es in Deutschland insgesamt nur noch drei oder vier Exemplare aus der Zeit gibt. Wir haben glücklicherweise einen Apparat der Firma Schwabe & Co. aus dem Jahr 1925, ähnlich dem, wie er im Schauspielhaus verwendet wurde, im Theater Plauen-Zwickau gefunden. Mit der digitalen Rekonstruktion kreieren wir quasi einen digitalen Zwilling, der zwar nicht jeden Kratzer des Originals nachbildet, zunächst sehr „glatt“ wirkt und auch keine Patina bekommen wird, aber gleichzeitig vielfältige andere Potenziale mit sich bringt – man kann nun online ins Innere des Apparates eintauchen, Funktionsweisen besser verstehen. Und so, wie der digitale Wolkenapparat in unserem VR-Projekt inszeniert ist, entfaltet er durchaus eine große Wirkung.
Auch hier findet also eine Aneignung und Weiterverwendung des Archivmaterials statt.
Ritter: Richtig, wir nutzen unter anderem Sketchfab, eine Online-Plattform, die aus der Gaming-Industrie kommt, auf der die rekonstruierten Objekte dreidimensional präsentiert und sogar heruntergeladen werden können.
Demnächst könnten Fans des Videospiels „Fortnite“ also auf den Wolkenapparat stoßen.
Ritter: Ja, bitte sehr, wenn historische Theaterobjekte sogar in die Spielewelt einziehen und so neue Zielgruppen erreicht werden, haben wir doch viel gewonnen!
Gibt es eine Aura des Digitalen?
Ritter: Für uns im Projekt haben diese Räume mit ihren Objekten tatsächlich eine starke Aura. Es gibt echte Gänsehautmomente, was zeigt, dass auch in dieser immateriellen Welt eine Art Kopräsenz erzeugt werden kann, ein immersives Eintauchen mit allen Sinnen. Die Narration und die Objekte verankern mich im Hier und Jetzt. Es ist zwar eine digitale Realität, aber eben auch meine Realität in diesem Moment.
Was aber passiert, wenn wir den Aura-Begriff von Walter Benjamin etwas alltagstauglicher abstrahieren: Nehmen wir Goethes Schreibtisch. Dessen Aura geht doch von dem Wissen aus, dass er dort eventuell den „Faust“ geschrieben hat und wir dieses heilige Stück Holz theoretisch sogar berühren könnten. Das Materielle und Haptische erzeugt sozusagen das Auratische. Auf welche anderen Sinne geht das Auratische in der digitalen Immersion über?
Ritter: Aus meiner Erfahrung geht hier das Auratische vor allen Dingen vom Raum aus. Die Kreation eines auratischen Erlebnisses ist – im digitalen wie im analogen Ausstellungsraum – letztlich auch eine Frage der Inszenierung. Wir haben da als Szenografen natürlich ein gutes Handwerkszeug im Gepäck. Wie viel oder wie wenig braucht es, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen? Wohin wollen wir die Aufmerksamkeit lenken? Farben, Oberflächen, Licht und Sound spielen dabei eine große Rolle. So kann in der virtuellen Realität trotz erwartbarer „Künstlichkeit“ eine eigenständige Aura entstehen, eine sinnliche Präsenz.
Spielt für Sie, Frau Mohren, Herr Herbordt, die Aura eine Rolle in Ihren Arbeiten? Hat der Rucksack, den Sie in „Alles was ich habe“ verwendet haben, eine Aura? Haben die Spinner-Akten eine?
Herbordt: Ich war versucht zu sagen, dass Aura als Begriff und Phänomen eigentlich kaum eine Rolle spielt, weil unsere Anordnungen wie gesagt sehr stark auf das Erzeugen von Vorstellungen ausgerichtet sind. Alles, was sich materiell im Raum befindet, dient im Prinzip nur als Infrastruktur, um die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen anzuregen. Das hat weniger mit Haptik oder Patina zu tun.
Gleichzeitig stellen wir uns gerade im Zuge einer Hörspielbearbeitung von „Die Gesellschaft“ die Frage, wie wir das Visuelle der Spinner-Akten ins Akustische transportieren. Es sind teils schreibmaschinengeschriebene Briefe mit unterschiedlichen Kommentarebenen; durch je mehr Hände oder über je mehr Schreibtische die Akten liefen, desto mehr wurde hinzugefügt. Diese Notizen würde ich am ehesten als Aura umschreiben, weil sie eine Geschichte transportieren, weniger eine größere Gesellschaftsgeschichte als die Geschichte jedes einzelnen Dokuments. Manchmal gibt es nur eine Unterstreichung, manchmal ein „Nein“ mit dreifachem Ausrufezeichen.
Mohren: Ich erinnere mich an einen Zuschauer bei „Alles was ich habe“, der viele, wirklich viele Stunden in dem Vorraum verbracht hat, in dem die ganzen Listen hingen. Er hat zum Schluss nur ganz kurz in die anderen Räume geschaut, wollte also sozusagen den Schritt weg von seiner Vorstellung der Dinge, die auf der Liste standen, hin zu den realen Objekten nicht machen. Er musste, wie er uns später sagte, sogar weinen. Daran sieht man, wie stark letztendlich das Vorstellungsvermögen sein kann – und wie nichtig in diesem Fall das Objekt.
Damit entfernen wir uns von einem eurozentristischen, auf Objekte fixierten Archivierungsbegriff. Auch Theater wird so, wenn es gut läuft, „archiviert“: als Erinnerung.
Ritter: Ja, das stimmt, eine wichtige Beobachtung. Gleichzeitig beschäftigt uns die Frage der Zugänglichkeit. Eine VR-Experience schafft viele neue Zugänge, schafft technologisch gesehen aber auch neue Barrieren und schließt Menschen mit Beeinträchtigung des Hörens oder Sehens zunächst aus. Wie ist das bei euch?
Herbordt: Wir kooperieren tatsächlich gerade auf unterschiedlichen Ebenen mit Einrichtungen und Einzelpersonen – Künstler:innen und Nichtkünstler:innen, Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder Beeinträchtigungen des Hörens –, um weitere Zugänge zu schaffen. Unser Ziel ist nicht, zum Beispiel eine Audiodeskription einfach additiv nebenher laufen zu lassen, sondern diese Formate zu einem künstlerischen Ganzen zu verschmelzen.
Ritter: Spannend!
Wäre es – Stichwort Nachhaltigkeit – nicht auch eine Möglichkeit, Bühnenbildmodelle, die im Theaterbetrieb ja endlos entstehen und irgendwo gelagert werden müssen, ebenfalls nur digital zu speichern?
Ritter: Ja, zum Teil werden Theaterproduktionen bereits mit digitalen Mitteln dreidimensional archiviert, sogar als eigenes künstlerisches Projekt, wie es zum Beispiel die CyberRäuber mit den „Memories of Borderline“ wunderbar gezeigt haben. Auf der Bühne ist in den letzten Jahren viel Interessantes und Wegweisendes in der Auseinandersetzung mit digitalen und virtuellen Welten entstanden. Leider sieht die Realität an vielen deutschen Theatern hinter der Bühne noch nicht sehr digital aus, es mangelt an Infrastrukturen, Know-how und zum Teil an Bereitschaft. Aber auch daran arbeiten wir im digital.DTHG-Forschungsprojekt: Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner zu befähigen, digital zu entwerfen, technische Abteilungen zu schulen, mit VR-Brillen zu konstruieren, im virtuellen Raum gar gemeinsam eine Bauprobe abzuhalten.
Die Bühnenbildnerin Katrin Brack hat einmal erzählt, dass sie bei ihrem Bühnenbild zu „Iwanow“ an der Volksbühne, das im Wesentlichen ja aus Nebel bestand, bei den Bauproben immer ins Modell geraucht hat. Das kommt einem im Digitalen natürlich abhanden.
Ritter: Ja, total schade, oder? Daher bin ich auch dagegen, das digitale und das analoge Theater gegeneinander auszuspielen. Beides existiert. Beides hat eigene Gesetzmäßigkeiten, Spielregeln und Qualitäten. Das Digitale hat in seinem ephemeren Wesen eine starke Verbindung zum Theater. In Frankreich wiederum sind gerade große Teile des Rechenzentrums eines der wichtigsten europäischen Cloud-Anbieter abgebrannt. Letztlich landen alle Daten, die für uns scheinbar immateriell irgendwo in Clouds schweben, doch wieder physisch auf dem Boden: in Form riesiger Fabriken, die eine Menge Strom verbrauchen. Alles muss gespeichert, dokumentiert, mehrfach gesichert werden. Daten überall und jederzeit verfügbar. Aber ich weiß gar nicht, ob das das Ziel sein sollte. Ich komme zurück zum Anfang: Das Vergessen, die Lücken sind doch die spannenden Felder.
Die Bundesrepublik ist da – ganz Institution – scheinbar anderer Meinung: In der Nähe von Freiburg sammelt sie in atomsicheren Behältern im sogenannten Barbarastollen fotografisch archivierte Dokumente mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeutung. Trotz unserer Feier des Vergessens: Was würden Sie in den Barbarastollen einspeisen?
Herbordt: Ich würde mich auf jeden Fall zum Advokaten der Spinner-Akten machen. Sie bilden ab, was sich nicht abbilden lässt, weil es das, was sie enthalten, nie gegeben hat. Damit erzählen sie sehr viel über die menschliche Vorstellungskraft und darüber, warum bestimmte Vorstellungen nie anerkannte Realität geworden sind.
Ritter: Aus unserem Projekt heraus gedacht könnte ich eine Festplatte mit allen digitalen Daten zum Großen Schauspielhaus in die Fässer packen, weiß aber, dass die in hundert Jahren sowieso keiner mehr lesen kann. Insofern würde ich auf jeden Fall noch ein paar Archivalien dazulegen, nämlich Poelzigs Original-Grundriss und einige Architekturfotografien. Erwischt! (lacht)
Mohren: Im Prinzip aber müsste man sofort eine Liste der Dinge erstellen, die nicht im Barbarastollen gespeichert sind – und diese Liste dort atomsicher archivieren.
Ritter: Wie bei einer Abiturfeier, wo man auf dem Schulhof feierlich eine Kapsel mit Zeitdokumenten vergräbt, über deren Inhalt man ewig debattiert hat – nur um fünf Jahre später enttäuscht festzustellen, dass die Kapsel dem Turnhallenneubau zum Opfer gefallen ist. Total enttäuschend. Aber ein sehr schönes Erlebnis, an das man sich immer erinnert! //