Auftritt
Berlin: Wut auf Europa
HAU: „Symphony of Progress“ von Nicoleta Esinencu. Regie Nicoleta Esinencu und teatru spǎlǎtorie
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Freie Szene Berlin Theaterkritiken Hebbel am Ufer (HAU)

Arbeitsmigration im europäischen Ost-West-Gefälle ist ein im Theater hier eher selten behandeltes Thema. In den Ländern Osteuropas ist es jedoch zentral und auch ein gravierendes soziales Problem: Mütter und Väter lassen ihre Kinder zurück, weil sie im Westen als Saisonarbeiter oder auch für länger auf Baustellen und in der Landwirtschaft schuften, Spargel stechen, Gurken ernten, Alte pflegen oder Schweine und Rinder zerlegen. Unter oft unwürdigen Bedingungen jenseits aller Arbeitsrechtsnormen, in lausigen Unterkünften untergebracht – und trotz EU-Pass beinahe rechtlos, wenn es um ein Aufbegehren geht. Allenfalls die Skandale in der deutschen Fleischindustrie haben das Thema etwas bekannter gemacht. Geändert hat sich wohl nicht allzu viel und Corona alles noch verschärft.
Nicoleta Esinencu, Autor-Regisseurin aus Moldau, hat schon mehrmals Themen der eklatanten Bruchlinien zwischen Ost- und Westeuropa in ihren auf dokumentarischen Recherchen basierenden Stücken bearbeitet. Nun hat sie unter dem sarkastischen Titel „Sinfonie des Fortschritts“ zur Arbeitsmigration aus osteuropäischer Perspektive eine Musik-Performance entwickelt und als Auftakt einer Koproduktionstournee (FFT Düsseldorf, Hellerau Dresden, Rampe Stuttgart) im Berliner HAU zur Uraufführung gebracht.
Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan und Kira Semionov treten in oranger Arbeitskleidung auf. Ihre ‚Instrumente‘ sind Schlagbohrmaschinen und Akkuschrauber, mit denen sie vorproduzierte Sounds steuern. Eine Art Elektropop der schrillen, manchmal sogar düster grellen Töne, deren Präsentation in dieser Aufmachung natürlich auch an die sich verdingenden Handwerker beim Innenausbau von schönen Eigentumswohnungen erinnert, die man deutschlandweit in jedem guten Altbauviertel beobachten kann. Doch um konkrete Figuren geht es erst in den von den drei erzählten Geschichten. Am markantesten vielleicht, auf jeden Fall am eindringlichsten, ist die von Doriana Talmazan vorgetragene Erzählung einer jungen Moldauerin (geschieden, mit 13-jähriger Tochter und Mietkostenproblemen), die sich für einen Job auf einem Landwirtschaftshof in den Süden Finnlands begibt. Klingt eigentlich wie eine tolle Sache, zu skandinavischen Standards Gurken und Zucchini ernten –, stellt sich dann aber als ein deutsches Schlachthofszenario der Ausbeutung und Entrechtung heraus, samt Entlassung wegen unbotmäßigen Verhaltens.
Zum Bühnenbild wird eingangs erläutert, dass es sich um drei noch aus sowjetischer Zeit stammende Licht-Paneele handelt (die allerdings nicht so viel anders aussehen als früher bei Robert Wilson) und eine Versammlung von Scheinwerfern aus Kamas-Lkws, die damit ein post-sowjetisches Setting abgeben. Das hat eine feine Ironie, die freilich hierzulande nicht von allen bemerkt werden dürfte. Auch sprachlich bewegt sich die Performance mit moldauischem Rumänisch, Russisch und schönem Akzent-Englisch in der Sphäre, die das Stück selbst vorstellt. Dass Esinencu auch eine grausame Poetin ist, kommt in solchen Verdichtungen zur Sprache, dass unsere Gurken nach den Nierensteinen der Erntehelfer (die nicht mal pinkeln dürfen) schmecken und überhaupt vieles im Service-Wesen mit den kaputten Hüftgelenken der aus den östlichen Staaten stammenden Boten und Paketträger belastet ist. (Der Name des dafür bekanntesten Konzerns wird ausdrücklich nicht erwähnt.)
In dem Stück steckt auch eine gehörige Portion Wut, die am Ende in einem Gedankenspiel aufrütteln will: Was wäre, wenn Belgier die Kirschen in Polen ernten und Italiener die Kranken in Kiew pflegen? Das wird nicht passieren, und deshalb ist diese Sinfonie ein Schrei ins Innere Europas, immerhin mit dem Theater. //