Auftritt
Ruhrtriennale: Die Ruhe des Pferdes
„Falaise“ von Camille Decourtye und Blai Mateu Trias – Regie Camille Decourtye und Blai Mateu Trias, Mitarbeit Regie María Munoz, Pep Ramis, Mal Pelo, Bühnenbild Lluc Castells, Sound Fred Bühl, Licht Adéle Crépinet, Kostüm Celine Sarthal
von Stefan Keim
Assoziationen: Zirkus Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Ruhrtriennale

Am Ende sind die Wände kaputt. Die Welt zerfällt. Die Artistin steht ratlos neben ihrem Pferd. Sie hat Angst, weiß nicht, wie es weitergehen soll. Der Schimmel steht einfach nur da. Er ist die Ruhe selbst. Sie fragt ihn, was er denkt. Der Schimmel steht da. Sie geht von der Bühne. Und dann schließt sich ganz langsam der Vorhang. Das Bild ist schön. Es ist hoffnungsvoll. Die Ruhe des Pferdes strahlt ins Publikum.
„Falaise“ ist ein Theaterwunder. Unglaublich, dass dieses Stück erst fünf Jahre nach seiner Uraufführung Deutschlandpremiere bei der Ruhrtriennale hat. Denn der Zeitgenössische Zirkus hat Konjunktur, bei Düsseldorf Festival laufen gerade einige tolle Aufführungen, zum Beispiel von der australischen Kompagnie Circa oder dem neu gegründeten Copenhagen Collective. Außerdem nimmt „Falaise“ auf ebenso poetische wie hemmungslos unterhaltende Weise relevante Zeitthemen auf. Es geht um Verfall, um Einsamkeit, um die Möglichkeit von Gemeinschaft. Und das auf vorher nicht gesehene Weise, gespielt von einem brodelnden, vor Energie berstenden Ensemble. Ein Glück, das die Ruhrtriennale es eingeladen hat.
Es sind wahrhaftig Tiere auf der Bühne. Neben dem Pferd gibt es noch Tauben. Aber die sind nicht perfekt dressiert. Wenn sie auftreten oder aufflattern, herrscht oft Spontaneität auf der Bühne. Bei aller Präzision, die für Akrobatik nötig ist, bleibt „Falaise“ lebendiges Theater, bei dem man nie ahnt, was als nächstes passiert.
Zu Beginn liegt ein barfüßiger, weißbärtiger Mann auf der dunklen Bühne. Er lehnt an einer sieben Meter hohen Wand (steht im Programmheft), die keine Fenster hat, die Türen sind verschlossen. Alles sieht abweisend und trostlos aus in Lluc Castells Bühnenbild. Dann kommen die weißen Tauben und lassen sich auf den Händen des Mannes nieder. Klar, er hat Futter darin, das sieht man am Picken der Vögel. Aber sie lösen ihn aus seiner Starre.
Dann folgen irre Bilder. Leute, die aus engen Öffnungen kriechen und das Verschlussmaterial einfach wegsprengen. Eine Frau, die sich im Freeclimbing minutenlang an winzigen Vorsprüngen festhält und sich beim Laufen in extremer Rückenlage bewegt. Einen Mann, der sich rückwärts aus sieben Metern Höhe (ja, steht im Programmheft) rückwärts auf ein Kissen fallen lässt, kurz liegen bleibt, aufsteht und den Stunt wiederholt. Menschenknäuel, die sich ineinander verschlungen über die Bühne wickeln. Gewaltszenen, abgedrehte Clownsnummern, und plötzlich singt jemand eine Opernarie. Oder alle bilden eine Band und singen einen Song von Nick Cave and the Bad Seeds. Und immer wieder kommt der Schimmel langsam auf die Bühne, schaut sich das ganze Chaos an und verbreitet eine unfassbare Gemütsruhe. Natürlich beruht das auf der Arbeit mit der Bezugsperson, der Artistin und Sängerin Camille Decourtye. Man sieht und spürt ein hundertprozentiges Vertrauen. Mensch und Pferd sind eine Einheit geworden. Diese stille Utopie überstrahlt jede Zerstörung.
Der Applaus ist riesig, das Publikum verlässt die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord. Da kommt das Ensemble plötzlich zurück. Alle haben sich umgezogen und bilden eine schräge Band. Sie ziehen durch den Saal, laden ein, mitzukommen. Im Foyer gibt’s ein kleines Konzert und Siebdrucke an einer Maschine. Viele bleiben da, man gleitet erst langsam in die normale Welt zurück. „Falaise“ bedeutet übersetzt „Klippe“. Und ebenso rau und romantisch ist diese Aufführung, die Elemente aus Zirkus, Tanz und Musiktheater zu einer eigenen Form vermischt. Das französisch-katalanische Ensemble Baro d’evel zeigt pure, wilde Lust an der Zerstörung und einen ebenso unbezähmbaren Überlebenswillen, allem Verfall zum Trotz. Einmal tanzt ein Paar minutenlang in atemraubenden Verdrehungen in einem andauernden Kuss. Die Lippen verlieren niemals den Kontakt. Ich bin lange nicht mehr so glücklich aus dem Theater gegangen.
Erschienen am 12.9.2025