Theater der Zeit

Auftritt

Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz: Dat is Balin

„Cabaret“ von Joe Masteroff, nach dem Stück „Ich bin eine Kamera“ von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood, Gesangstexte von Fred Ebb, Musik von John Kander – Musikalische Leitung Thomas Möckel, Regie Maik Priebe, Bühne Susanne Maier-Staufen, Kostüme Christine Jacob, Choreografie Lars Scheibner

von Juliane Voigt

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Musiktheater Theaterkritiken Susanne Maier-Staufen Maik Priebe Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz

Josefin Ristau als Sally Bowles , Robert Will als Clifford Bradshaw und Florian Rast als Ernst Ludwig in „Cabaret“ in der Regie von Maik Priebe am Theater und Orchester Neubrandenurg/Neustrelitz. Foto Matthias Horn
Josefin Ristau als Sally Bowles , Robert Will als Clifford Bradshaw und Florian Rast als Ernst Ludwig in „Cabaret“ in der Regie von Maik Priebe am Theater und Orchester Neubrandenurg/NeustrelitzFoto: Matthias Horn

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Es sind unruhige Zeiten. Draußen wächst der Gesellschaft rechts außen ein brauner Flügel, drinnen setzen die Menschen auf Rückzug, fest entschlossen, sich zu amüsieren, bevor es unausweichlich wird, sich mit dem zu beschäftigen, was sich da politisch zusammenbraut. Noch lässt es sich einfach so weiterleben. Sie schlürfen an ihren Drinks und beobachten aus dämmerigem Hintergrund die Glamourgirls und glitzernde Theatersternchen da oben auf der Bühne.

Es geht um das Musical „Cabaret“ und es hat – allem Anschein nach – mal wieder Saison. Zu sehen gerade im Neubrandenburger Theater in einer Inszenierung des Schauspieldirektors Maik Priebe. Um das Publikum so ganz und gar in die Handlung hineinzuversetzen im Sinne von hineinsetzen hat Bühnenbildnerin Susanne Maier-Staufen den Innenraum des Theaters entkernt und eine Mischung aus Wintergarten und Clairchens Ballhaus hineininstalliert. Neubrandenburg hat endlich ein Varieté, voilà! Verrucht und sexy, wild und schmutzig geht es dort zu. Viel nackte Haut, Strapse, High Heels, Perücken, Federboas und verlängerte Wimpern. (Kostüm Christine Jacob). Das Publikum sitzt an Tischen hinter niedrigen, mit kleinen Glühbirnen beleuchteten Balustraden auf Balkonen, die sich stufenartig im Raum nach oben ziehen, sie nippen an ihren Drinks und sehen auf die glitzernde Varietéwelt, in der die Glamourgirls von einer Saalseite zur anderen tingeln und tangeln, Showtreppe rauf und Showtreppe runter, einmal längs einmal quer durch die Manege. In der Mitte sitzt die Kapelle und versucht, den Einsatz nicht zu verpassen, denn die Musiker:innen haben’s nicht leicht mit den leichten Mädchen. Mal gibt’s einen Kuss auf den Schlagzeuger oder jemand rückt dem Pianisten auf die Pelle.

Lieder wie „Live is a Cabaret“, „Welcome Bienvenue Welcome“ oder „Mein Herr“ haben das Musical, das 1966 am Broadway uraufgeführt wurde, weltberühmt gemacht, dem Stück einen Haufen Grammys und dem späteren Film acht Oscars eingebracht, unter anderem Liza Minelli den für die beste Hauptdarstellerin. Auf dieser Bühne werden die Lieder unter der musikalischen Leitung von Thomas Möckel mindestens ebenso preisverdächtig interpretiert. Fast pausenlos. Denn die Textpassagen des Musicals, mit denen die Handlung vorangetrieben wird, sind überschaubar und auch nicht besonders geistreich, so dass hier vor allem getanzt und gesungen wird. Überhaupt hat die gesamte Inszenierung kaum einen Moment, in dem mal nichts los ist. Als hätte der Regisseur sich die Aufgabe gestellt, keine Sekunde vergehen zu lassen, in der die Spannung des Stückes, das sowieso schon alle kennen, nachlassen könnte.

Im Mittelpunkt steht die Figur Sally Bowles, eine Tänzerin im Berliner Kit Kat Club Ende der 1920er Jahre. Den es im Übrigen gar nicht wirklich gegeben hat, obwohl ansonsten viel in diesem Musical ziemlich authentisch diese Zeit in Berlin aufgreift. Der Kit Kat Club, den es heute in Kreuzberg gibt, ist nach der Musical-Vorlage in „Cabaret“ benannt und der wiederum nach dem eigentlichen Original, den es schon im 18. Jahrhundert in London gegeben hat. Sally Bowles jedenfalls ist in diesem verruchten Laden der Star, in dem Tänzerinnen auch noch andere Dienstleistungen anbieten und Publikumsnähe durchaus auch wörtlich nehmen. Sally Bowles ist dort wie ein Fisch im Wasser, für sie ist das Leben eine Bühne und sie will nach ganz oben. Mit Josefin Ristau in dieser Rolle, ist schonmal die Hälfte des Abends gewonnen. Denn sie kriegt es darstellerisch ebenso wie tänzerisch und stimmlich hin und überwältigt mit einer unerwarteten Musical-Röhre. Die Schauspielerin ist Ensemblemitglied, sogar gebürtige Neubrandenburgerin, hat aber in Hamburg Musical studiert. Sie kann’s! Als Kit Kat-Girl bleibt sie erst einmal eine Reminiszenz an den Filmstar Liza Minelli. Ihren eigenen Ausdruck findet sie aber, wenn die Perücke runter ist und sie eine ganz normale Blondine wird, die sich Mühe gibt, ihr Lotterleben für ihren neuen Freund aufzugeben. Die Handlung spielt in der Silvesternacht 1929/30 in Berlin. Der amerikanischen Schriftsteller Clifford Bradshaw – eine Rolle, die Robert Will auf dieser Bühne irgendwie auf den Leib geschrieben zu sein scheint – strandet im Kit Kat Club. Die beiden Verlieben sich, ziehen zusammen, erwarten ein Kind – und scheitern. Auch der zweite Frühling, in dem das ältliche Paar Fräulein Schneider und Herr Schultz (Marion Martienzen und Thomas Pötzsch) aufblühen, nachdem der jüdische Obsthändler die Pensionswirtin mit einer Ananas rumgekriegt hat, überlebt die kalten Zeiten nicht, die sich Szene für Szene mehr andeuten. Zunächst stolpern Hitler, Stalin und Mussolini in Strapsen über die Bühne: Diktatoren als debile Nummerngirls. Bald sieht man Hakenkreuze, Nazifrisuren, Hitlerbärtchen, Uniformen. Auf der Bühne bricht die Gesellschaft auseinander. Die im Gegensatz zum Publikum mit einer ‚Was soll schon Schlimmes passieren?-Mentalität‘ nicht ahnen soll, was Schlimmes passieren wird. Seismograf der sich anbahnenden Zeitenwende ist der Conférencier, fantastisch gespielt und in all seinen Brüchen und Wendungen durchgehalten von Noah Alexander Wolf, der als scharf gezeichnete Karikatur einen bissigen Abgesang auf die Zeit liefert; in der nach und nach die Freizügigkeit und Zügellosigkeit dieses grandiosen Sündenpfuhls Babylon, das Berlin einmal war, erlischt.

„Cabaret“ in Neubrandenburg ist immersives Theater. Das Publikum wird einbezogen und rutscht langsam hinein in dieses irrwitzige und respektlose Nachtleben. Es kann passieren, dass einem die Tänzerinnen plötzlich auf dem Schoß sitzen. Zeitungsjungen stürzen herein und verteilen das „Extrablatt“ (Programmheft) des Abends. In der Pause gibt’s (so war es jedenfalls bei der Premiere) sprudelnde Getränke und Currywurst. „Kit Kat Club“ steht blinkend über dem Eingang zum Theater. Und nach der Pause gehts weiter mit dem Tanz auf dem Vulkanrand mit garantiertem Blick in den ganz tiefen Abgrund, der sich dort langsam öffnet. Im übertragenen Sinne natürlich, denn Maik Priebe lässt das Stück, wie es ist. „Cabaret“ ist im Grunde selbsterklärend der Abgesang an eine sich im Untergang befindliche Zivilisation. Das Scheitern der großen Liebe zwischen Sally und Cliff, ist denn auch wenig bewegend. Irgendwie voraussehbar. Es gibt Schlimmeres. Das Publikum hat zu Recht zehn Minuten stehend applaudiert. Alle Vorstellungen sind ausverkauft.

Erschienen am 13.6.2024

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