Auftritt
Wiener Festwochen: Der Haimon in uns
„Antigone im Amazonas“ von Milo Rau / NTGent, MST (Bewegung der Landlosen) – Konzept, Regie Milo Rau Text Milo Rau & Ensemble, Konzept, Recherche, Dramaturgie Eva-Maria Bertschy Musik Elia Rediger, Pablo Casella Bühne Anton Lukas Kostüme Gabriela Cherubini, Anton Lukas, Jo De Visscher
Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Dossier: Klimawandel Elia Rediger Milo Rau NT Gent Wiener Festwochen

Content-Note: In Bildern und Text wird die Gewalt an der indigenen Bevölkerung im brasilianischen Amazonasgebiet thematisiert.
Wahrscheinlich muss man allein die Tatsache, dass diese Inszenierung überhaupt zustande kommen konnte, als Erfolg werten. Denn die Widerstände, die es auf dem Weg zur Premiere zu überwinden galt, waren beträchtlich. Da war die Corona-Pandemie, die in Brasilien wegen der fahrlässigen Politik des damaligen Präsidenten Jair Bolsonaro besonders verheerend ausfiel und auch den Produktionszeitplan torpedierte; da waren die Anfeindungen gegen das Theaterprojekt durch die (unter Bolsonaro erstarkten) rechtsextremen Kräfte im Land; und da ist die Geschichte der Menschen, mit denen Milo Rau seine Inszenierung entwickelt hat – Menschen nämlich, für die es nicht selbstverständlich ist, dass sie überhaupt noch am Leben sind. Für „Antigone am Amazonas“ schloss sich Rau mit der MTS (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) zusammen, einer Bewegung (meist indigener) landloser Bauern, die seit bald 40 Jahren für eine ökologische Landwirtschaft kämpft und gegen den Raubbau und die Regenwald-Rodung durch wenige Großkapitalisten. Ein mitunter lebensgefährlicher Kampf. „Über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen Lateinamerikas sind in den Händen von einem einzigen Prozent der Bevölkerung – meist den direkten Nachkommen der ehemaligen Kolonisatoren und Sklavenhalter“, schrieb Milo Rau dazu in einem Gastbeitrag der taz.
„Nichts ist ungeheurer als der Mensch“, lautet der berühmteste Satz aus der „Antigone“ des Sophokles. Für Rau liegt die Ungeheuerlichkeit des Menschen in seiner Unmäßigkeit; in seiner maßlosen Profitgier, die weder Natur noch Mitmensch achtet. Im April 1996, bei einem „Marsch für die Landreform“ im regenwaldreichen Bundesstaat Pará, der diese Ungeheuerlichkeit anprangerte, wurden 19 Demonstrierende von der Militärpolizei erschossen. Noch über zwei Jahrzehnte später verhöhnte Jair Bolsonaro in einer Rede die Opfer, rühmte die Polizisten.
In „Antigone im Amazonas“ stellen nun Überlebende des Massakers in eingespielten Videosequenzen den Protest von damals nach. Skandierend übernehmen sie in dieser Tragödien-Überschreibung den Part des antiken Chors. Auch die Titelheldin wird von einer Aktivistin verkörpert, der indigenen Schauspielerin Kay Sara. Polyneikes wiederum – Antigones Bruder, der bei Sophokles im Kampf um Theben fällt und von ihr gegen den Willen König Kreons bestattet wird – spielt der brasilianische Schauspieler Frederico Araujo, vor allem aber steht Polyneikes in dieser Fassung für den ersten beim „Marsch für die Landreform“ getöteten Demonstranten. Die Rollen von Kreon und dessen Sohn Haimon indes haben Sara De Bosschere und Arne De Tremerie aus dem Ensemble Milo Raus NT Gent übernommen. Kreon und Haimon: hier sind sie die Ausbeuter, die (post-)kolonialistischen Profiteure der Abholzung der Regenwälder für die Rinderzucht.
So finden sämtliche Figuren der antiken Vorlage eine schlüssige Entsprechung in der Gegenwart.
Und doch geht es Milo Rau erkennbar nicht um das moderne Abbild eines alten Stücks, sondern vielmehr: um einen Gegenentwurf. Sophokles‘ „Antigone“ endet tragisch. Beim Kampf der Bewegung der Landlosen, mit dem sich Rau solidarisiert, geht es darum– so aussichtlos dieses Unterfangen manchen erscheinen mag – die Tragödie doch noch abzuwenden.
Die Kraft des Kollektivs, die im Chor steckt, ist dabei ästhetische und aktivistische Strategie gleichermaßen. Sie verleiht dem politischen Anliegen Nachdruck und der Aufführung theatrale Wucht. Die Bühne ist mit roter Erde bedeckt, wie man sie auch in den Filmeinspielungen sieht, die Rau im April dieses Jahres in Brasilien gedreht hat und die nun auf Leinwand im Theater projiziert werden. Araujo, De Bosschere, De Tremerie und ein Musiker sind sowohl auf der Bühne als auch in den Videos zu sehen, Kay Sara und der Chor der Landlosen nur im Film. Manchmal interagieren die Darsteller:innen in Film und Bühne miteinander, manchmal doppeln sich Live-Spiel und vorproduzierte Aufnahmen oder die Bühnenakteure schildern ihre Gedanken und Empfindungen zu den von der Kamera in Brasilien eingefangenen Erlebnissen. So fügt sich alles zu einer Mischung aus Dokumentation, Making-Of und Spiel.
Einer der intensivsten Momente ist das Reenactment des „Marschs für die Landreform“. Da formiert sich Raus Chor der Überlebenden des Massakers von 1996 am Originalschauplatz noch einmal zum Protestzug, die Parolen von damals im Mund, und schleudert sie mit geballter Entschlossen als Sicherheitskräfte verkleideten Schauspielern entgegen. Die Kamera taucht ein ins Getümmel, es kommt zu Handgemengen, dann fallen Schüsse. Polyneikes-Darsteller Frederico Araujo „stirbt“ als erster. Ringsum echte Polizisten, um den Drehort zu sichern, sowie gut sichtbare Schaulustige, die die Szene mit gezückten Handys filmen. Von dieser Mischung aus authentischer Anmutung (reale Kulisse, verwackelte Kamera wie man sie aus Nachrichtenbildern von Straßenschlachten oder Häuserkämpfen kennt) und bewusster Brechung, indem die Theatersituation kenntlich gemacht wird, lebte unter anderem auch schon Milo Raus Film „Das neue Evangelium“. Sie verfängt auch hier. Rau macht den Tätern von damals gewissermaßen den (Schau-)Prozess, der nie stattgefunden hat, um der Welt deren schandhaftes Tun und Schuld drastisch vor Augen zu führen.
Gegenüber solchen großen Momenten fallen andere Szenen merklich ab. Haimons Selbstmord etwa, im Video und auf der Bühne gespielt in fackelbeschienener Nacht, kommt in einer konventionellen Theaterhaftigkeit daher, die man von Milo Rau so nicht erwartet hätte. Doch solche Schwächen fallen kaum ins Gewicht. Bestechend die Besetzung des Sehers Teiresias mit dem indigenen Philosophen Ailton Krenak, der im Video erklärt, er fürchte sich nicht vor dem Weltuntergang, denn er und sein Volk seien ja bereits seit „500 Jahren tot und immer noch da“. Schlimmer stehe es da um den Westen, dem es an derlei Erfahrung fehle. In ähnlicher Lakonie verstörend ist auch der Kommentar vor Krenaks Auftritt. Seher, heißt es da, würden in der antiken Tragödie immer erst dann erscheinen, wenn es eh zu spät sei. Bezogen auf uns Heutige verheißt das nichts Gutes. Die Prophezeiungen und Prognosen, was die Abholzung des Amazonas für die ganze Menschheit bedeutet, liegen längst auf dem Tisch. Aber wir, die Bewohner der westlichen Welt, scheinen sie bis heute mehrheitlich nicht recht wahrhaben zu wollen. Wir sind wie Prinz Haimon, der zwar mit Antigone sympathisiert, sie in ihrem Kampf aber letztlich allein lässt. So wie wir die Bewegung der Landlosen, die den Kampf schon vor 40 Jahren aufgenommen habe. Gegen alle Widerstände. Für uns alle.
Erschienen am 1.6.2023