Theater der Zeit

Auftritt

Theater Orchester Biel Solothurn: Kollektives Glitzern einer Biografie

„Orlando“ von Virgina Woolf – Regie Olivier Keller, Bühne Dominik Steinmann, Kostüme Tatjana Kautsch, Musik Daniel Steiner

von Anna Bertram

Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Dossier: Queeres Theater TOBS

Ein Genderstern wie ein Meteorit: „Orlando“ in der Regie von Olivier Keller am Theater Orchester Biel Solothurn. Foto Joel Schweizer
Ein Genderstern wie ein Meteorit: „Orlando“ in der Regie von Olivier Keller am Theater Orchester Biel SolothurnFoto: Joel Schweizer

Anzeige

Anzeige

„Orlando: Eine Biographie“ ist einer dieser Romane, die sich ihrer Zeit ein wenig voraus anfühlen. Veröffentlicht im England des frühen 20. Jahrhunderts verhandelt Autorin Virginia Woolf in ihrem Buch die Fluidität von Gender, von Zeit und den vielen Identitäten und Lebensentwürfen, die sich durch eine Biografie ziehen können. Nachdem der Stoff des Romans seit einiger Zeit Hochkonjunktur in den Darstellenden Künsten erlebt, letztes Jahr zum Beispiel mit dem Dokumentarfilm des französischen Theoretikers Paul B. Preciado „Orlando, meine politische Biografie“ oder im Herbst dieses Jahres am Wiener Burgtheater unter Regie von Therese Willstedt, kommt Orlando auch in der Schweiz an. Nach dem Theater Luzern in der Spielzeit 2023/2024 zeigt das Theater Orchester Biel Solothurn nun Orlando auf der Bühne.

Fünf Orlandos befinden sich zu Beginn mit dem Publikum im erleuchteten Theatersaal, sitzen in den roten Sesseln im Parkett und oben in den Rängen. Sie beginnen zu erzählen: Wer Orlando war, wann und wie gelebt wurde, von der damaligen Zeit. Es sind Biografinnen und Orlandos zugleich, Glitzerkostüme haben sie alle an, vielleicht sind es Rave-Outfits oder Astronautenkostüme. Schimmernd flackern die Anzüge im Licht, dazu tragen alle die gleiche braune Perücke. Spartanisch leer dagegen steht die Bühne da, wird sich erst später über den Abend hinweg entwickeln und sich nach und nach mit ellenlangen, von der Decke aus hängenden Farbbannern füllen. Als die Orlandos also auf die Bühne treten, bestätigt sich die Vermutung: Alle sind Orlando. Während die einen erzählen, rutschen die anderen mal in die Rolle des zunächst jungen adeligen Orlandos, mal in die Rolle der Königin, mal anderer Figuren. Bald wird klar, dass es eben nicht den einen Orlando gibt, sondern er und sie irgendwie überall und jeder ist. Und so etabliert sich eine Erzählweise, die sinnlich, aber auch flüchtig ist, ähnlich dem Bild, in dem auf der Bühne Ventilatoren Nebel in der Luft tanzen lassen.

Es ist die Deutungshoheit über eine Biografie, die hier formal verhandelt wird. Da erzählt also nicht eine Figur allein, sondern es wird sich abgewechselt, ergänzt, manchmal unterbrochen, dann wieder bekräftigt. Ein kollektiver Erzählstrang, der sich immer wieder in einzelne Bilder verdichtet, dann wieder auflöst und neu erfindet. Und so lässt die Erzählung dem Publikum Raum für Imagination – vielleicht gerade, weil dieses gemeinschaftliche Erzählen die Fantasie eher öffnet als schließt. Wie Orlando aussah, wie Orlando sprach, was für ein Umfeld Orlando umgab – es bleibt eine Einladung, die Skizzen selbst auszumalen. Bühne und Kostüm tragen diese Offenheit mit, indem sie eher andeutend angelegt sind und Raum für eigene Interpretation und Lesart lassen. Gleichzeitig ist der Abend nicht zu interpretativ, sondern gibt Halt in der klassischen Form des narrativen Theaters: Die schauspielerische Erzählweise kehrt immer wieder zurück zu der einer gängigen Sehgewohnheit. Und dennoch wird man ein wenig herausgefordert, bekommt keine eindeutige Lesart vorgekaut. Die Musik fühlt sich nach schrägen Zwischentönen von Barock und Rave-Pop an, und mit den langen Farbtüchern auf der Bühne, dem Nebel, Luftballons und Seifenblasen bedient sich die Inszenierung einfacher Mittel, die umso stärker wirken, weil sie nicht ein festes Wesen von etwas darstellen, sondern auf etwas hinweisen.

Dass Orlandos Gender, Körper und Sprache, Sehnsüchte und Charakter hier auf fünf Figuren aufgeteilt werden, scheint eine zeitgemäße Konsequenz aus Woolfs Stoff zu sein. Anders könnte man Orlando heute womöglich gar nicht erzählen, zumindest, wenn man der Fluidität und Hybridität des Stoffes und der Orlando-Figur gerecht werden möchte. Vom elisabethanischen Zeitalter lebt Orlando bis ins Heute, trifft in den 350 Jahren auf eine russische Prinzessin, einen Dichter, einen Aristokraten. Verliebt sich, zieht um, wacht mit einem neuen Geschlecht auf, zieht wieder um. Alles schwebt leicht über dem Boden. Fast überraschend scheint es dann, dass in der zweiten Hälfte plötzlich doch die starke Setzung kommt: Ein riesiger Genderstern schlägt wie ein Meteorit auf die Bühne ein. Plötzlich also doch eine Manifestation, die nicht mehr nur die sinnliche Rezeption anspricht, sondern geradezu politisch plakativ wirkt. Nicht der Elefant im Raum ist es hier, sondern der Genderstern. Bis zum Ende bleibt er prätentiös und vehement im Raum stehen.

Damit bleibt es auch etwas in der Luft hängen, wie dieser Stern letztlich eingeordnet werden kann. Ist es eine Provokation, eine Notwendigkeit, ein Appell für ihn oder eine Kritik dagegen? Der Abend entzieht sich hier einer klaren Haltung und lässt neben den ästhetischen Skizzen auch diese politische Ebene interpretierbar. Dabei hätte man gerade hier die diskursive Strahlkraft eines Theaters betonen können, das doch – ob man es möchte oder nicht – immer ein Narrativ bietet und nie nur beobachtet. Und so hätte man sich ein Stück mehr in die Fußstapfen von Virgina Woolf wagen können. Mit „Orlando“ hinterfragt und sprengt Woolf nämlich die starren Geschlechterrollen ihrer Zeit, regt poetisch zur Reflexion über Identität und Freiheit an. Und schreibt so diesen kanonischen Text der Frauen- und queeren Bewegung. Der Abend am TOBS hingegen hält sich an dieser Stelle zurück, möchte sich nicht in einen politischen Diskurs einschreiben, sondern verharrt größtenteils im Repräsentativen. Die Inszenierung macht das wiederum sehr poetisch, immer wieder ein großes Augenzwinkern und Humor auf der Bühne, und doch teilweise ästhetisch unkonventionell. Für ein Solothurner Publikum sicher eine passende Wahl: Der Abend fordert etwas heraus und bietet doch genug Sicherheit, um nicht vor lauter Dekonstruktion Orientierung zu verlieren. Wir haben ja Zeit, würde Orlando möglicherweise als Reaktion auf diesen Abend sagen. Und hinterlässt uns mit einem Gefühl weicher Poesie, dem Bild eines Papierbootes schwimmend im Publikumsmeer und mit viel Glitzer.

Erschienen am 4.10.2024

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York