Theater der Zeit

Bericht

(Ver)führung ist (k)eine Kunst

„3 Episodes of Life” von Markus Öhrn thematisiert Missbrauch im Kulturbetrieb

von Annika Gloystein

Erschienen in: double 40: Good Vibrations! – Resonanzen im Figurentheater (11/2019)

Assoziationen: Recht Österreich Theaterkritiken Wiener Festwochen

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„Julius Jantunen ist dafür bekannt, radikale und oft kontroverse Themen und Methoden für seine Performances zu verwenden.“ So steht es im fiktiven Wikipedia-Eintrag, den das Publikum mit dem Programmzettel bekommt. Von einem „Provokations-Künstler“ ist zu lesen, der als „Bühnenbildner, Dramatiker, Regisseur und Choreograf“ arbeitet. Fast die ganze Theaterzunft exemplarisch in einem Mann vereint.

In den „3 Episodes of Life“ – die bei den Wiener Festwochen 2019 einzeln an aufeinanderfolgenden Abenden oder auch an einem Tag in fünfeinhalb Stunden hintereinanderweg zu sehen waren – beschäftigt sich der schwedische Künstler Markus Öhrn mit Aspekten der Macht, deren Missbrauch sowie der Erniedrigung und Ausbeutung von Kunstschaffenden. Dies zeigt er exemplarisch an einem Berufsfeld, in dem Körperlichkeit per se eine Rolle spielt. Wir sehen Jantunen bei der Tanzprobe, bei der sich eine Neue im Team bewähren muss (Episode 1), wie diese Tänzerin bei ihm auf dem Hotelzimmer zu Besuch ist (Episode 2) und er zu den dortigen Geschehnissen ein Statement abgibt (Episode 3). Öhrn zeigt dabei Stereotypen und (Geschlechter-)Klischees: Er (Macht / Täter) – Künstlergenie, egozentrisch und selbstverliebt seine Interessen vertretend vs. Sie (Ohnmacht / Opfer) – Elevin, lechzend nach Anerkennung und Aufmerksamkeit, voller Unsicherheit und Bewunderung. So weit, so eindeutig.

Spannend ist die Form, die Öhrn selbst „Silent Movie Theatre“ nennt: Auf der Bühne spielen Dorit Chrysler am Theremin und Arno Waschk am Klavier ihre Komposition zum hinter ihnen eingeblendeten Stummfilm. Sprache ist als Zwischentitel (Text: Myra Åhbeck Öhrman) zu lesen. Auf ihren Köpfen tragen die Akteure im Film wie auch die Musiker auf der Bühne übergroße Pappmaché-Masken. Große Augen, offene Münder mit Schlauchbootlippen – der Gesichtsausdruck liegt zwischen erschrocken, leicht dümmlich und lasziv. Die Absenz von Mimik und Stimme wird durch die Körpersprache der Akteure kompensiert, zusammen mit den eingeblendeten Worten sowie der Live-Musik formt sich aus den Versatzstücken ein Theater im Kopf. Das macht es schwer, sich herauszuziehen.

Distanz ist nur möglich, indem man sein eigenes Beobachten beobachtet: Unbehagen daran, wie Jantunen mit den Tänzerinnen umgeht. Was macht aus der Berührung, die die Körperhaltung korrigiert, Übergriffigkeit? Unsicherheit darüber, was den Blick steuert. Ist die Kameraperspektive eine mir bloß aufgezwungene? Ratlosigkeit, wenn das Gesehene nicht in eindeutige Kategorien passt. Wo beginnt Missbrauch? Zwiespältigkeit, wenn mich quält, was ich sehe und ich mich doch nicht abwende. Bin ich ein Voyeur? Schriftliche Handreichungen vor jeder Episode stimmen auf das Kommende ein. Assoziationen werden freigesetzt („Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass in der ersten Episode Kunst-Blut, Kunst-Sperma und … Nutella verwendet werden.“), Erwartungshaltungen überprüft, Meinungen verfestigt. Die Grenze zwischen Führung und Verführung verschwimmt. Mein Anteil als Konsument an diesem System wird thematisiert. Kann ich ein Ereignis erwarten, unmittelbar und authentisch – aber bitte fairtrade produziert? Julius Jantunen ist erfunden, doch das macht ihn nicht weniger real. – www.festwochen.at

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