Theater der Zeit

Reportage

Theater der Nahbarkeit und das Neun-Euro-Ticket

Das Theater Bielefeld befindet sich im Höhenflug, während das Theater Hagen zu verzweifelten Mitteln greift, um Publikum anzulocken

von Stefan Keim

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theater Hagen Theater Bielefeld

Keiner stellt infrage, bei der nächsten Premiere in Bielefeld wiederzukommen.Foto: Christian R. Schulz

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Saisonstart in Bielefeld. Intendant Michael Heicks tritt vor das Publikum und bedankt sich. Trotz der Pandemie hat das ­Theater keine Abonnenten verloren. Die Zahl liegt stabil bei über 4000 und steigt weiter. „Zehn Abos pro Woche kommen weiterhin dazu“, sagt Heicks ein paar Wochen später. Zahlen, von denen die meisten Bühnen gerade nur träumen können. Warum erscheint Bielefeld gerade wie eine Insel der Seligen?

Viele Faktoren kommen zusammen. Einmal liegt Bielefeld nicht in einem Ballungszentrum. Die nächste Bühne ist das ­Landestheater Detmold. Es gibt eine Universität und ein einigermaßen intaktes Bildungsbürgertum. Michael Heicks und die ­Marketingchefin Charlotte Höpker führen den Erfolg vor allem auf ihre Strategie während der Coronaschließungen zurück.

Zwei Jahre gab es keine Abos. Aber eine Abocard, mit der die Stammkunden ein Vorkaufsrecht hatten, wenn das Theater spielen konnte. „Wir haben jedem einen persönlichen Brief geschrieben“, erzählt der Intendant. „Niemand sollte sich allein gelassen fühlen.“ Wenn Veranstaltungen ausfielen, bot das Theater Alternativen an. „Wir sind dabei immer transparent geblieben“, sagt Michael Heicks. „Unsere Besucherinnen und Besucher sollen das Gefühl haben, Teil eines Ganzen zu sein.“

Nahbarkeit ist einer der zentralen Begriffe für Charlotte Höpker. Die Abonnentinnen und Abonnenten haben nicht nur schriftliche Erklärungen bekommen. „Wir haben alle persönlich angerufen“, sagt die Marketingleiterin. Mit dem Streaming hatte sich Bielefeld erst zurückgehalten und auf Aktionen im Botanischen Garten oder einen Lyrikspaziergang gesetzt. Als sich die Theaterleitung entschloss, Aufführungen online anzubieten, lief auch das sehr gut. „Bei unserem Hotzenplotz-Stream sind die Leitungen zusammengebrochen“, berichtet Michael Heicks. Auch das Weihnachtsmärchen wurde gestreamt, eins der populärsten Stücke. Viele andere Theater haben sich mehr auf kleinere und speziellere Aufführungen konzentriert.

Ein Hauptgrund für den anhaltenden Publikumszuspruch ist natürlich der Spielplan. Bielefeld ist noch ein klassisches Stadttheater, das für alle Schichten viel bietet. Hier gibt es Komödien und Erzähltheater, aber auch Experimente und Koproduktionen mit Off-Gruppen. Niemand fühlt sich ausgeschlossen. Bei der Uraufführung der Musiktheaterfassung von Alfred Döblins „Berlin, Alexanderplatz“ – einer Zusammenarbeit von Oper und Schauspiel – blieben nach der Pause einige Sitze leer. Aber es gab keine beleidigten Reaktionen in der Pause. Sondern Äußerungen wie „Ach, das ist heute nichts für mich.“ Keiner stellt infrage, bei der nächsten Premiere wiederzukommen.

Natürlich geht es nicht nur um Abos. Gerade der Frei­verkauf ist angesichts von Krieg und Energiekrise vielerorts zusammengebrochen. Nicht in Bielefeld. Von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ wurde gerade eine Extravorstellung im großen Haus eingeschoben. Und für das Weihnachtsstück ­„Pinocchio“ wurden schon 20 000 Tickets verkauft. Sogar „Berlin, Alexanderplatz“ – eine sehr anspruchsvolle Aufführung – erreicht eine Auslastung von rund 80 Prozent. „Das Vertrauen ist da“, sagt Michael Heicks, der seit 17 Jahren Intendant in Bielefeld ist. Das ist auch ein Vorteil, wenn es darum geht, eine Krise zu bewältigen. Newcomer haben es gerade besonders schwer.

Szenenwechsel. Das Theater Hagen steckt noch tiefer im Schlamassel als viele anderen Bühnen. Hier gibt es vor allem ­Musiktheater, Ballett sowie Kinder- und Jugendtheater. Eine eigene Schauspielinszenierung mit Gästen stemmt das Haus pro Jahr. Schon vor der Pandemie hatte die Bühne große Probleme, das ­Publikum wird immer älter und weniger. Marketingchefin Mareike Hujo will das ändern und mit einem Monatsticket für neun Euro die Jugend ins Theater locken. „Wir möchten“, sagt sie, „jetzt den jungen Menschen auch zeigen, dass sie in eine ganz andere Welt abdriften und drei Stunden Oper ein wahnsinnig tolles Erlebnis sein können.“ Das Neun-Euro-Ticket gilt dabei für alle.

Zu Open-Air-Konzerten bei freiem Eintritt kamen 4000 Leute. Und auch im Spielplan hat sich einiges verändert. Verdis „Trovatore“ gibt es nur konzertant, dazu eine Offenbach-Operette, die Rockshow „Heroes“, „Anatevka“ und das Monty-Python-Musical „Spamalot“. Wer das sehen will, muss nun einfach an der Abendkasse sein Neun-Euro-Ticket zeigen oder kann sogar vorher einen Platz reservieren. Ausgenommen sind nur das Weihnachtsmärchen und ein paar Gastspiele. Abonnenten haben alle drei ­Monatstickets umsonst zugeschickt bekommen und können Freunde und Verwandte zum Theaterbesuch einladen.

Extrageld von der Stadt gibt es für diese Aktion nicht. Das Theater stemmt sie aus eigenen Mitteln. Geschäftsführer Thomas Brauers rechnet vor, dass die Aktion gar nicht so teuer werden könnte. „Wir verzichten ja nur auf die Einnahmen durch Einzel­tickets“, erklärt er. „Und wenn es uns gelingt, viele Neun-Euro-­Tickets zu verkaufen, dann kann es sein, dass wir mit einem ­Gewinn da rausgehen.“ Es läuft gut an, in den ersten ­Tagen hatten sich schon über 600 Leute die Plastikkarte zum Schnäppchenpreis besorgt.

Für das Marketing ist das Monatsticket auch ein spannendes Experiment. Denn man sieht, was die Hagenerinnen und ­Hagener sich anschauen wollen, wenn der Preis keine Rolle spielt. Konkret: ob nun alle in die Musicals und Shows stürmen oder ob die Oper doch noch eine Chance hat.

Setzt das Theater Hagen damit einen Trend? Einzelne Tage, in denen die Karten zu ermäßigten Einheitspreisen verkauft werden, gibt es in vielen Theatern. Und fast alle haben mit furchtbar schlechten Buchungen zu kämpfen. Sogar in der vor dem Sommer noch so gut besuchten Oper Köln will kaum jemand die extrem aufwendige Oper „Les Troyens“ von Berlioz sehen. Wie lange ­können die Theater ihre Relevanz behaupten, wenn niemand ­hingeht?

Andererseits könnte es gefährlich sein, das Publikum daran zu gewöhnen, dass Kultur nichts kostet. Hier kommen auch die freien Anbieter ins Spiel, die schon unter der Pandemie viel mehr zu leiden hatten. „Die Aktion des Theaters Hagen stellt eine absolute Wettbewerbsverzerrung dar“, sagt Meinhard Zanger, Intendant des Wolfgang Borchert Theaters Münster. „Da 85 Prozent des Etats durch die öffentliche Hand getragen werden, kann sich das Theater Hagen das Neun-Euro-Ticket offenbar leisten. Was ist mit den Theatern, die viel weniger oder gar nicht gefördert werden, die auf Eigeneinnahmen durch Ticketverkauf angewiesen sind?“

Wenn das Beispiel Schule macht, bräuchte es eine flächendeckende Extraförderung der freien Kultur. Sonst könnte der während der Lockdowns erfolgreich vermiedene Kahlschlag doch noch passieren. Das Beispiel Hagen zeigt, wie schwierig vielerorts die Lage ist. Noch wagt es kaum jemand, darüber nachzudenken. Aber wenn sich die Publikumszahlen in vielen Städten nicht stabilisieren, stehen manche Bühnen vor Umstrukturierungen. Und es scheint dringend nötig, dafür inhaltliche Konzepte zu ent­wickeln, bevor die sich abzeichnende Finanznot auf sehr unangenehme Weise Fakten schafft. //

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