Thema
Verblüffend realistische Bühnenfiktion
Das Puppentheater Zwickau in Sachsen entdeckt während der Pandemie-Einschränkungen die 360 Grad Virtual Puppetry
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)
Assoziationen: Sachsen Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Digitales Theater Puppentheater Zwickau

Ist das noch Theater?“, fragt in aller Sympathie eine Besucherin im Foyer des Puppentheaters Zwickau, nachdem sie die Video-Brille abgesetzt hat. Ein ausgewählter Personenkreis erlebte soeben eine ungewöhnliche Schnuppervorstellung des „Erlkönigs“. Man saß zwar gemeinsam im kleinen Theaterfoyer, das mit Blumen, Fotos der Spielerinnen und Spieler und einem Klavier dekoriert ist. Aber jeder verfolgte die knapp halbstündige Inszenierung der Goethe-Ballade für sich per VR-Brille. Präsenz und der anschließende informative Austausch wären für den visuellen Genuss gar nicht erforderlich gewesen. Wer möchte, kann sich die Brille für eine Leihgebühr auch nach Hause schicken lassen. Unter dem Titel „360 Grad Virtual Puppetry: Deutsche Balladen“ wirbt das Zwickauer Puppentheater für sein neues Angebot.
Bedeutet das individualistische Eintauchen in die virtuelle Realität zugleich eine Abkehr vom Gemeinschaftserlebnis im Zuschauerraum? Wenn ja, dann übt das Alleinsein mit der Bühnenfiktion jedenfalls eine magische Anziehungskraft aus. Zumindest diese Überwältigungsphase befördert nicht Vereinsamung, sondern gegenseitige Reflexion. Die erste Erfahrung mit dem neuen Medium drängte die Zwickauer Besucherinnen und Besucher sogleich zu einer Verständigung über die verblüffenden Effekte, also zu Sozialkontakten.
Die im Empfinden der meisten Mitbürger weitgehend erschöpfte, ja in Skepsis gewendete Faszination Technik kehrt mit der perfekten Suggestion des Raumerlebens noch einmal zurück. Die neugierige Frage „Wie geht das?“ taucht nach der Einweisung durch das Puppenspielteam gleich beim Startmenü auf. Mit den Augen kann man wie mit einer Computermaus zu den Anfangseinstellungen und zum Startknopf navigieren. Parallel zum künstlerischen Erleben während der Vorführung fragt sich der unerfahrene Zuschauer außerdem, wie man sich durch Schwenken des Drehsessels oder Kopfbewegungen in allen Raumdimensionen umblicken kann, obschon die Brille ja fest vor den Augen sitzt. Über frühere 3D-Erfahrungen mit optischen Brillen hinausgehend, ist es ein frappierendes Erlebnis, scheinbar mitten im Geschehen zu stehen.
Mit welchen Reflexhandlungen, mit welch mitreißender Wirkung dabei gerechnet werden muss, zeigen schon die vorausgeschickten Hinweise, ja Warnungen. Keine Angst vor der Brille bitte, aufzusetzen wie eine Taucherbrille. Dabei nur auf die Seitenrichtigkeit der Kopfhörer achten, denn auf die kommt es bei der Rechts-Links-Orientierung an. Bei Angstzuständen bitte nicht schreien und um Hilfe rufen, sondern gefasst die Augen schließen. Für Epileptiker ist die Technik leider nicht geeignet. Nach dem Aufsetzen der Brille ist man allein in der Virtual Reality, nimmt die reale Umgebung nicht mehr wahr.
Schauder, aber kein Horror
Die inszenierte Ballade beginnt mit einem jagenden Ross, nachdem man sich mit den Augen an den Beginn der in der Brille gespeicherten Aufzeichnung navigiert hat. Das Pferd als Originalobjekt besteht aus Metall und stellt deshalb nicht nur eine beeindruckende Konstruktion zwischen Allegorie und künstlerischer Plastik dar, sondern auch eine im Wortsinn schwergewichtige. Der Vater reitet im Theaterfilm nicht, hält aber ständig das Kind im Arm. „Reiten wäre uns zu naturalistisch gewesen“, berichtet Dominique Suhr von den Dreharbeiten. Die Dramaturgin und Assistentin der Hausleitung verantwortet dieses erste digitale Projekt.
Alle anderen Erlkönig-Geister hat die Werkstatt aus Naturmaterialien gebaut. Keine paniktreibenden Gruseltiere wie in einschlägigen Kinderhorrorfilmen, eher zu freundlich für jene Fabelwesen, die das sterbende Kind in Goethes Ballade im Fieberwahn gesehen haben muss. Ein Fischgerippe droht nur ein bisschen, ein freundlicher Adler noch weniger, und der sympathische Hirsch verneigt sich schließlich vor Vater und Kind. Verbürgt ist auch die Natürlichkeit und Echtheit des Zwickauer Herbstlaubes, das die Gruppe selbst in der Stadt gesammelt hat.
Über der düsteren Landschaft wölbt sich ein perfekt imitierter Sternenhimmel mit einem unverzichtbaren Supermond. Eine ISS-Raumstation durchquert ihn als Wanderstern. Die Dramatik entspinnt sich im gesamten Raum, nicht nur im engen Dialog zwischen dem reitenden Vater und dem von ihm umschlungenen Sohn. Der stirbt später fast schon zu friedlich im Bett.
Entstanden in Pandemiezeiten
„Das ist kein Film, sondern weiterhin Theater“, betont Dominique Suhr. Ersichtlich sogar Puppentheater, denn man erkennt die dunkel geschminkten Gestalten in ihren schwarzen Ganzkörperanzügen, die die Fantasiewesen des Fiebertraums führen. Die Dramaturgin spricht sogar von Mitteln des alten Marionettentheaters. Aber eben mit modernster Technik übersetzt, was ihr zugleich die Formulierung von der „zweiten Sparte“ der nunmehr selbstständigen, von der Stadt Zwickau getragenen Figurenbühne in den Mund legt. Die unmittelbare Nachbarschaft zum Gewandhaus verrät, dass das 1952 gegründete Puppentheater bis vor sechs Jahren zum Theater Plauen-Zwickau gehörte.
Seine „zweite Sparte“ ist ein Kind der coronabedingten Schließzeiten, aber keineswegs als digitale Ersatzlösung entstanden. „Wir wollten und wollen nicht streamen“, bekräftigt Dominique Suhr. Auslöser der „Schnapsidee“ war der Hauptpreis bei Denkzeit Event, einem vom Freistaat Sachsen und seiner Kulturstiftung im Juni 2020 während der ersten Coronawelle ausgelobten Wettbewerb. Die Zwickauer Puppenspieler erhielten im September 2020 die Höchstförderung von 50 000 Euro. Dem Wettbewerb folgte das für zwei Monate an freiberufliche Künstler vergebene Denkzeit-Stipendium.
„Wir wussten nicht, was wir künstlerisch tun sollten“, beschreibt Dramaturgin Suhr die Suche nach anspruchsvollen Alternativen während der Zwangsschließzeiten. Einen herkömmlichen Animationsfilm wollte man nicht drehen, sich nicht mit Disney messen. „Es ging um eine Form, die sich eindenken kann“, meint sie die größtmögliche Nähe zum ursprünglichen Genre des Figurentheaters.
Es geht nicht ohne Kooperationen
Für diese Suche fanden die Zwickauer inspirierende Berater und Partner. Am Ort war und ist es Prof. Dr.-Ing. Sven Hellbach vom Lehrstuhl für Informatik und Intelligente Systeme der Westsächsischen Hochschule Zwickau. Mittlerweile hat die Puppenbühne sogar einen umfangreichen Kooperationsvertrag mit der Hochschule geschlossen. Eine „offene und ehrliche Ansprechpartnerin“ ist auch Tina Lorenz vom Staatstheater Augsburg gewesen, das schon länger mit Virtual Reality experimentiert. Bei diesem Austausch habe man gegenseitig aus Fehlern lernen können, meint Dominique Suhr, führt aber nicht näher aus, worin solche Fehlerrisiken bestanden.
Nur 20 Kilometer von Zwickau entfernt in Chemnitz sitzt die erfolgreiche und expandierende Spezialfirma VRENDEX für VR, AR und 360-Grad-Medien. Sie ist die technische Partnerin, stellt das Know-how zur Verfügung. Auch aus diesen Kontakten ist eine Dauerbeziehung geworden. Als nicht so stabil erwies sich das Münchener Start-up Firstrow, eine Vertriebsfirma für VR-Produkte. Sie verschickte die VR-Brillen und hatte eigentlich neben Zwickau weitere namhafte Kunden wie das Staatstheater Augsburg und das Schauspielhaus Graz. Obschon das im Januar 2022 hinzugekommene Zwickauer Puppenspiel ein neues Geschäftsfeld bedeutete, musste Firstrow aufgeben. Nun suchen die Zwickauer eine neue Logistikfirma, einige Interessenten haben sich bereits gemeldet. Der deutschlandweite Brillenversand musste zunächst eine Sommerpause einlegen. Ab September soll er in gewohnter Weise wieder anlaufen.
Es geht weiter mit Geibels „Goldgräbern“
Was Dominique Suhr über die Filmarbeit berichtet, veranschaulicht noch einmal, dass es sich nicht um einen Film im herkömmlichen Sinn, sondern um einen „fiktiven Theatersaal“ handelt. Im realen Saal ist nämlich auch gedreht worden, mit realen Schwierigkeiten. Denn für eine 360-Grad-Kamera, die meist mit zwei gegenüberliegenden Linsen und Sensoren ausgestattet ist, war eine nur 6 x 6 Meter große Bühne zu klein. Außerdem liefern diese Kameras noch keine optimale Auflösung, sodass auf eine normale 120-Grad-Kamera zurückgegriffen wurde.
Allein die Konzeption für die am Ende knapp halbstündige Produktion nahm sechs Wochen in Anspruch. Gefilmt wurde dann drei bis vier Tage. Als weit anstrengender erwies sich die Postproduktion, die Bearbeitung und Komposition am Computer. Das Zwickauer Team berichtet von einem Vierteljahr Arbeit parallel zur seit Mitte Januar 2022 in Sachsen wieder erlaubten Öffnung der Theater.
Mit unüberhörbarem Stolz spricht man in Zwickau vom ersten virtuellen Puppentheaterstück weltweit. Zumindest bei Schulklassen am Ort darf man sich des Interesses weiterhin sicher sein. Für Schüler bedeutet der Besuch im Puppentheater eben doch weiterhin ein Gemeinschaftserlebnis. Im Juli kam die Nachricht, dass die Dreharbeiten zum zweiten Stück der geplanten Dreierserie deutscher Balladen abgeschlossen sind. Es geht nun um die Faszination und die Kehrseiten des Goldrausches in den „Goldgräbern“ nach Emanuel Geibel von 1870. „Sie waren gezogen über das Meer, / Nach Glück und Gold stand ihr Begehr“, beginnt die Ballade von drei Glücksjägern, die sich im Streit um das endlich gefundene Gold gegenseitig umbringen. Am 16. Dezember soll diese VR-Inszenierung erstmals zu sehen sein. //