Auftritt
Gießen: Persiflage auf die schöne neue Welt?
Stadttheater Gießen: „BRAVE KIDS“ von Andreas Kowalewitz, Cathérine Miville und Lars Ruppel (UA) Inszenierung Cathérine Miville. Musikalische Leitung Andreas Kowalewitz
von Lina Wölfel
Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Sprechtheater Hessen Stadttheater Gießen

„Backstage Exklusive for Winners“ steht auf dem goldgelben Armband, das jede:r Besucher:in vom Einlasspersonal im Stadttheater Gießen angelegt bekommt. Auf Nachfrage, wofür das Band sei, erklärt mir eine Mitarbeiterin, dass ich es mir mit meiner guten Arbeit für den Konzern in den letzten zwölf Monaten verdient hätte. Selbe trägt eine marineblaue Seidenkrawatte um den Hals, auf der in Knallpink ein „W“ aufgedruckt ist – das Firmenlogo des imaginativen Wohl-Konzerns, dessen 100-jähriges Jubiläum im Zentrum der Stückentwicklung steht. Alle Mitarbeiter:innen des Theaters sind an diesem Abend auch Mitarbeiter:innen des Wohl-Konzerns. Alle tragen entweder eine marineblaue Krawatte, ein marineblaues Halstuch oder ein marineblaues Einstecktuch – alle mit dem Wohl-Logo bedruckt.
Als VIP-Gäste werden wir in den Theatersaal gebracht, wo vor einer imposanten Kulisse (Bühnenbild von Lukas Noll) die sehr an ein TV-Studio à la „Wetten, dass?“ erinnert, ein Streichquartett klassische Musik spielt. Die Eventmanagerin Frau Bogdanovic (Carolin Weber) verkündet, dass wir jetzt in den Backstage-Bereich geführt werden, um von dort aus das „Spektakel“ zu beobachten. Prompt stürmen Besucher:innen über die Seitengänge auf beziehungsweise hinter die Bühne, um dort eine weitere Bühne samt Zuschauerraum vorzufinden, auf der sich nun die Show hinter der Show abspielt oder eher: eine zweieinhalbstündige Persiflage auf die „Medien-Macht-Geld-Welt“, gekleidet in den Mantel einer Musical-Revue.
Der Text zur Uraufführung von Cathérine Miville – ihrer letzten Regiearbeit als Intendantin am Stadttheater Gießen – ist gemeinsam mit dem Poetryslammer Lars Ruppel, die Musik zusammen mit Andreas Kowalewitz entstanden. Erzählt wird das Chaos hinter der Jubiläumsgala, denn im Backstage-Bereich bekommt die schöne neue digitale Welt Risse: Da sprengt die IT-Abteilung für ein paar Minuten im Rampenlicht den pedantisch getimten Zeitplan, schreit Bogdanovic ihre Anspannung in ein von ihrer Assistentin (Lucy Jo Petermann) gereichtes Kissen und fürchtet die sonst so toughe Wohl-Media-Geschäftsführerin (Karola Pavone), dass am Spendentelefon nicht genug fürs gute Firmenimage zusammenkommt. Miville, früher Mitarbeiterin bei der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, inszeniert das alles geradezu slapstickhaft. Im Sekundenwechsel folgen Künstlerwitze auf Technikerwitze auf DB-Witze auf Reichenwitze auf Witze über politische Korrektheit. Zu allem Überfluss springt Carla Maffioletti als überdrehte blond-gekreppte Influencerin Larissa Sternenstaub auf die Bühne und versucht, ihren Follower:innen Eyeliner, Bausparverträge und eine Reise nach Bayern gleichzeitig anzudrehen, die sogleich in einem Song geloben, ihr zu folgen und alles zu liken, was sie sagt.
Apropos Musik – Miville beendet ihre Intendanz spartenübergreifend. Dafür hat sie die Musicalstars Sophie Berner und Andrea M. Pagani als Showsternchen Mira La Grande und Carlo Moreno engagiert. In einem zehnminütigen Medley performen sich die beiden durch die bekanntesten Musical-Nummern von „Maybe this time“ aus „Cabaret“ bis zum Titelsong aus „Kuss der Spinnenfrau“.
Highlight der Gala sind aber die „lieben Kleinen“ vom Stipendiat:innen-Programm, ein Sozialprojekt des Firmen-Chefs Dr. Dr. Wohl (Harald Pfeiffer). Als Chor sollen sie mit Melodien aus dem Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ die Herzen der Spender:innen weichsingen, aber die „Kids“ wollen nicht nur artig sein und niedlich aussehen, sondern selbst mitbestimmen und etwas bewegen. Von ihren Handys aus hacken sie sich in den Server der Gala und tauschen die Laudatio des Bundespräsidenten prompt durch ein eigenes, per Deepfake (ein mithilfe Künstlicher Intelligenz erstelltes Bild oder Video, das echt wirkt, es aber nicht ist) generiertes Statement aus – „Generation Greta: Sorry, wir haben’s verbockt, euch eine gute Welt zu hinterlassen“. Es wird nicht klar, ob dieses Video als Gag gemeint ist, oder nicht. In postfaktischen Zeiten kann darüber aber nur eine bestimmte Altersspanne lachen.
„BRAVE KIDS“ legt den Finger auf viele Problemstellungen der Digitalisierung – es geht um Macht, um Geld, den monetären Wert künstlerischer Arbeit und letztendlich einen Generationenkonflikt. Den Abgrund hinter der bunt-glitzernden Showfassade kann man indes nur vermuten, tiefere Lehren lässt schon das Format nicht zu – pompöse Abendgarderoben und überspitzte Charakterdarstellungen zugunsten der Punchline-Quote verdecken Kapitalismuskritik und Medienbildung. Auch bleibt die Multimedialität des Abends hinter dem Spektakel zurück – trotz Deepfake-Videos und sprechendem Roboter auf der Bühne. //