Theater der Zeit

Was macht das Theater?

Was macht das Theater, Sivan Ben Yishai?

von Stefan Keim und Sivan Ben Yishai

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Akteure Performance Dossier: Was macht das Theater...? Münchner Kammerspiele Maxim Gorki Theater

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Du hast als Regisseurin und Performerin gearbeitet. Heute bist du vor allem Dramatikerin. Bist du glücklich damit?

Seit 24 Jahren lebe ich im und mit dem Theater. Das ist eine lange Zeit. Um ehrlich zu sein, heutzutage, nach so vielen Jahren als Regisseurin im Proberaum, ist es meine größte Freude, allein am Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben. Andererseits glaube ich, dass Theater, das nicht kollektiv ist, nicht überleben kann. Theater macht man zusammen. Die Vielfältigkeit der Stimmen ist das Resultat dieser Erfahrungen mit dem kollektiven Arbeiten. Ich will es nicht zu hart sagen, aber Theater, das nicht kollektiv ist, kann nicht überleben. Ja, ich bin eine Autorin, und die Distanz zum Proberaum ist immer eine Art Konflikt.

Hast du als Autorin beim Schreiben schon eine Idee für die Umsetzung deiner Stücke?

In einem guten Stück sollte alles enthalten sein, sogar die Lichtdramaturgie. Ich schreibe keine Regieanweisungen, aber es sollte alles zu finden sein. Vielleicht können nicht alle jede Schicht im Text erkennen, aber ich glaube, dass ein Text alle diese Schichten in sich enthalten sollte. Er sollte dem Team aber auch Rätsel aufgeben: Welche Körper können das nun übernehmen? In welchem Bild könnte so etwas stattfinden?

Schon beim Lesen deiner Stücke empfinde ich etwas sehr Körperliches. Einen Drang in den Worten, gespielt zu werden.

Ja, wo ist eigentlich der Körper der Dramatikerin? Und wie kann man ihn auf andere Körper auf einer Bühne übertragen? Das Theater verlangt so eine Übersetzung von uns. Ich versuche, einen Mechanismus zu entwickeln, den spielenden Körper auf der Bühne mit meinem hier am Schreibtisch zu verknüpfen. Ein anderer Aspekt ist, dass ich keine Botschaften verkünden, sondern ins Gespräch kommen will. Die Stimmen wollen mitreden, den Raum erobern, ihn verwandeln. Sie wollen berührt werden und berühren, verletzen und verletzt werden.

Wenn du dich Themen wie Krieg, Holocaust, Leid, Unterdrückung mit einer wilden Fantasie, mit Poesie und Humor näherst, hast du manchmal die Furcht, etwas zu weit zu gehen?

Ja, schon. Aber meine Stücke sind ja nicht handlungsorientiert, sondern diskursorientiert. Es gibt ja auch viel Angst und Unsicherheit in meinen Stücken. Wenn die Furcht auftaucht, wird sie automatisch Teil des Textes. Fehler sind immer Teil meines Schreibprozesses. Vergiss bitte nicht, dass ich in meiner zweiten Sprache schreibe. Da entstehen immer Fehler. Es gibt da ein Erlebnis. Ich war mal in einem Theater, in dem es keine Toiletten gab. Ich musste dringend und versteckte mich hinter einem Mülleimer. Und als ich da hockte, merkte ich plötzlich, dass auf der anderen Seite eine belebte Straße war. Ich war also auf der einen Seite geschützt und von der anderen konnten mich alle sehen. So ist es, in einer Fremdsprache zu schreiben. Du glaubst, dass du dich hinter der Bühne aufhältst, und trotzdem beobachtet dich immer jemand aus der ersten Reihe.

Wir haben gerade in der Pandemie einen großen Publikumsverlust. Wie reagierst du als Dramatikerin darauf?

Mein neuestes Stück „Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr, oder liebe ich es zu sehr?)“, das ich fürs Gorki geschrieben habe, behandelt auch diese Fragen. Macht es für die Aufführung was aus, ob du sie dir anschaust oder nicht? Ob du als Zuschauer:in da bist oder nicht? Das Theater muss die Wege neu definieren, auf denen wir uns begegnen. //

 

Die Dramatikerin Sivan Ben Yishai wurde 1978 in Palästina/Israel geboren. Sie lebt seit 2012 in Berlin und schreibt ihre Stücke auf Englisch. Die Schriftstellerin Maren Kames übersetzt die Texte ins Deutsche. In diesem Frühjahr gewann Sivan Ben Yishai für ihr Stück „Wounds Are forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)“ den Mülheimer Dramatikpreis. Regelmäßig arbeitet Sivan Ben Yishai auch mit den Münchner Kammerspielen und dem Berliner Gorki Theater zusammen, wo ihre nächsten Stücke Uraufführung haben werden.

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