Thema: Die Systemfrage
Die Systemfrage
Der Berliner Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier und Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, im Gespräch
von Frank M. Raddatz, Thomas Ostermeier und Thomas Oberender
Assoziationen: Berlin Akteure Schaubühne am Lehniner Platz Berliner Festspiele
Herr Ostermeier, das Verhältnis von freier Szene und Stadttheater wird oft konflikthaft dargestellt, als Kampf zwischen Arm und Reich.
Thomas Ostermeier: Im Herzen der Auseinandersetzung steht der Streit um Mittel. Oft mit sehr vereinfachten Argumenten, nämlich: Institutionen sind innovationsfeindlich, verkrustet, staatstragend, kunstfeindlich, lahm, DDR-ähnlich etc. Diesem üblichen Vorwurf wird das Bild einer freien Szene entgegengestellt, die neu, innovativ, kreativ ist und schlecht bezahlt wird. Vor diesem Horizont wird gefragt: Warum kriegt die freie Szene nicht mehr Geld, wenn sie die ästhetischen Innovationen der letzten zwanzig Jahre geleistet hat?
Der wichtigste Punkt ist für mich, dem ganz ehrlich zuzustimmen: Ja, es ist ungerecht, dass die freie Theaterszene so wenig Geld bekommt. Das ist ein echter Kampfpunkt; das muss sich unbedingt ändern. Aber hinter den Schluss „Dann sollen die Stadttheater etwas abgeben!“ setze ich ein großes Fragezeichen. Aus zwei Gründen: Erstens streben auch jene, die von der Projektförderung abhängen, nach Institutionalisierung. Das sagt jemand, der mit der Schaubühne ein Theater leitet, das 1962 von fünf Studenten der Freien Universität Berlin als Studententheater gegründet wurde. Dieses freie Theater wird mittlerweile maßgeblich von der Stadt unterstützt, so wie sich das jedes Theater wünscht, um Möglichkeiten zu haben, besser zu produzieren, die Mitarbeiter angemessen zu bezahlen etc. Zweitens – und Johan Simons hat schon darauf hingewiesen: Wenn diese Mittel aus den festen Strukturen von Institutionen herausgebrochen werden, fällt es viel leichter, sie aus den Budgets der Kommunen und Gemeinden zu streichen. Das holländische Beispiel zeigt, dass, wenn jemand wie Simons seine freie Gruppe Hollandia auflöst, plötzlich komplett die Mittel für diese Truppe aus dem Kulturhaushalt gestrichen werden, so als würde nach dem Weggang Peter Steins die Schaubühne nicht länger subventioniert. Deswegen verteidige ich die Idee institutionalisierter Häuser für Kunst, denn es muss möglich sein, nach einer bestimmten Zeit die Macher auszuwechseln, ohne dass damit die ganze Struktur wegfällt. Wer die institutionelle Kulturförderung in Frage stellt, wie die Exponenten der Projektkultur, positioniert sich, womöglich gegen die eigene Intention, als willfähriger Botschafter eines neoliberalen, flexibel organisierten Arbeitsmilieus. Ich gehe gerne mit jemandem, der die Projektkultur befürwortet, durch dieses Haus und bitte ihn, mir jene Mitarbeiter zu zeigen, die hier überflüssig sind. Natürlich führe ich wie jeder Theaterleiter zugleich extreme Auseinandersetzungen mit meinem Betriebsrat. Wir wissen alle, dass fast 90 Prozent der Mittel eines Theaters dieser Größe an feste Arbeitsverträge und Sachkosten gebunden sind und nur ein geringer Prozentsatz an flexiblen Mitteln bleibt. Von den 16,8 Millionen Euro Budget, wovon immerhin 25 Prozent Eigenleistungen sind, also Einnahmen, bleiben 1,7 Millionen, mit denen man frei umgehen kann. Aber nur weil man in einem künstlerischen Betrieb arbeitet, muss man nicht prekären und vollkommen flexiblen Arbeitsverhältnissen das Wort reden.
Thomas Oberender: Ich bin aufgewachsen in der Haltung des Misstrauens gegenüber Institutionen. Vom Staat, um die größte zu nennen, bis zu klassischen Stadttheatern, und das hat nicht nur etwas mit meiner Herkunft aus der DDR zu tun. Aber angesichts der Zustände an der Schule meines Sohnes, an den Universitäten oder beim Sozialamt fällt mir auf, dass man Institutionen inzwischen schützen muss. Man muss sie retten als ein Gemeingut. Und so ist das auch mit unserer in der Welt einmaligen Theaterstruktur. Aber wir sind in vielen Häusern an einem Punkt, wo wir den Gürtel nicht mehr enger schnallen können. Jetzt kann man das Kleid nur noch ablegen. Allein im letzten Jahr hat das traditionelle Theatersystem in Deutschland 300 Millionen Euro an Spareffekten verkraften müssen. Wir brauchen diese produktiven Zonen einer merkantilen Windstille. Aber ich möchte klar sagen, woran ich nicht glaube: an das gute alte Stadttheater als Allheilmittel. Es ist rund achtzig Jahre alt. Nicht jeder Künstler träumt davon, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Wir haben deshalb inzwischen zwei parallel operierende Systeme: das der exklusiv produzierenden Institutionen, was in der Regel die klassischen Theater sind. Und das einer kooperativ produzierenden Struktur, mit Institutionen, die in der Regel von Projektförderung abhängig sind. Diese Unterscheidung ist wesentlich produktiver als die zwischen herkömmlichen Institutionen und freier Szene. Weil inzwischen beide Bereiche Projekte realisieren und Institutionen darstellen. So erübrigen sich viele Gegensätze, die nur scheinbar sind, und geben den Blick frei auf die wirklichen Differenzen. Die kooperativen Strukturen entsprechen in der Regel einem anderen Werkbegriff und sind oft die Heimat kollektiver Kreationsprozesse. Die Politik hat, insbesondere seit der Regierungszeit von Gerhard Schröder, das Modell der Projektförderung nun als sehr attraktiv erkannt. Man kann die eingesetzten Mittel besser evaluieren, Zielvorgaben machen, als Geldgeber in Prozesse ein- und wieder aussteigen. Die Deregulierungsprozesse der späten neunziger Jahre haben also nicht nur Hartz IV und die Ich-AG durchgesetzt, sondern auch die Praxis der zeitlich befristeten und wirtschaftlich evaluierbaren Kulturprojekte. Der Bund trat in diesen Jahren erstmals, trotz der Kulturhoheit der Länder, als Kulturproduzent in Erscheinung bzw. übernahm institutionelle Verantwortung in Häusern wie der Akademie der Künste oder den Kulturbetrieben des Bundes in Berlin. Und er schuf die Kulturstiftung des Bundes als eine Möglichkeit, Bundesgelder auf Länderebene zu verteilen. Auf der Grundlage föderaler und nationaler Projektförderung hat sich schließlich über Jahrzehnte hinweg ein Parallelsystem von Institutionen neuen Typs herausgebildet, vom HAU bis zu Rimini Protokoll, die keine Alternativkultur produzieren, sondern ebenfalls zeitgenössische Hochkultur und einen Großteil unserer kulturellen Dynamik verursachen. Nur unter deregulierten Bedingungen, oft weit unter den hinnehmbaren Standards. Fünfzehn Jahre nach Schröder müssten wir nun also einen Schritt weiter gehen und nachregulieren.
Ostermeier: Vor diesem Hintergrund wird eine Debatte aufgemacht, bei der es um die Fleischtöpfe geht, weil die Mittel nicht für alle reichen.
Oberender: Dieses Brecht-Wort von den Fleischtöpfen ist viel zu grob. Da geht es um fressen oder gefressen werden. Viel fruchtbarer wäre es, nicht die Mittelfrage zu stellen, sondern eine Systemfrage, denn die gesamte Gesellschaft ist von dieser Transformation betroffen, da sich überall die Spielregeln ändern.
Ostermeier: Was die Künstler wollen, kann ich beantworten. Nehmen wir Romeo Castellucci. Ein Klassiker des freien Projekttheaters, der ästhetisch die letzten zwanzig Jahre Festivalkultur geprägt hat. Er sagt zu mir: „Jetzt, wo ich bei euch gearbeitet habe, merke ich erst, was man hier machen kann!“ Er hat große Lust auf einen noch sehr viel intensiveren Prozess mit den Werkstätten. Bislang konnte er Bühnenbilder nicht im Prozess entwickeln und noch einmal umbauen lassen etc. Unsere Struktur ist ein Traum für Romeo Castellucci.
Ich halte nichts davon, die Milieus gegeneinander auszuspielen. Unsere Leistung besteht zum Beispiel darin, mit zehn Neuproduktionen pro Jahr bei 450 Vorstellungen wenigstens 80 Prozent Auslastung zu haben. Der Hintergrund ist, dass die Damen und Herren im Kulturausschuss seit den nuller Jahren vom Quotienten sprechen. Der Quotient ist Mittelzuschuss geteilt durch Zuschauerzahlen.
Oberender: Ein Ergebnis der Schröder-Zeit.
Ostermeier: Deinen Exkurs kann ich nur unterschreiben, aber den Schluss, dass wir uns damit abfinden und nachregulieren müssen, ziehe ich nicht. Ich möchte unsere Kulturlandschaft – nicht als deutsches oder europäisches, sondern als ein bürgerliches Erbe – als Ausdruck eines bürgerlichen Selbstverständnisses bewahren. Es geht mir um eine Gesellschaft, die den erwirtschafteten Reichtum durch demokratische Institutionen wie das Parlament und die Ministerien an die Gemeinschaft verteilt. Dazu gehören Einrichtungen wie öffentliche Verkehrsmittel, Parks, Stadtbibliotheken, Schulen, Universitäten etc. Das, was das Leben in Berlin oder in Europa lebenswert macht, ist Resultat eines demokratischen Verständnisses der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums. Deregulierung bedeutet, dass der Staat sich überall herauszieht, um die Kräfte des Marktes unbegrenzt zu entfesseln und Kultur wie im amerikanischen Modell einem Mäzenatentum, dem Sponsoring oder der einen oder anderen Projektförderung zu überlassen. „Die Projekte sind in der Hochkultur angekommen“, heißt doch: Ein paar Leuchtturmprojekte bekommen ein Sahnehäubchen zugeteilt, ansonsten zieht sich die öffentliche Hand aus der Verantwortung zurück. Diese Transformation, mit der wir es zu tun haben, ist der Versuch, Europa zu amerikanisieren. Das ist unser wirkliches Problem heute, und diese verheerende neoliberale Deregulierung bekommen wir nicht mit etwas Nachregulierung in den Griff.
Oberender: Wir sind uns einig, dass wir nicht wollen, dass in Zukunft Kunst mit weniger Geld produziert wird, und dass es auch nicht darum geht, Institutionen zu schließen. Abfinden will ich mich mit gar nichts. Aber wir sind uns nicht einig in unserer Auffassung davon, wie wir uns vor den Schattenseiten der Deregulierung schützen. Ich denke, wir müssen unsere Institutionen schützen. Projektarbeit ist nicht das Sahnehäubchen im System, wie das in Stadttheatern gerne gesehen wird, sondern sie findet auf Augenhöhe statt. Also sollten die Räume für Kreationen ähnlich behandelt werden wie die für Interpreten. Das ist einfach nicht der Fall.
Ostermeier: Schaut man in Günther Rühles Geschichte des Theaters in Deutschland, wird evident, dass es sich von Anfang an um ein Uraufführungstheater handelt.
Oberender: Ein Interpretentheater von Texten, die als Vorlage für Aufführungen geschrieben sind.
Ostermeier: Nein. Es ging um Uraufführungen von Hauptmann, Wedekind, Bronnen, Kaiser, Brecht, um deutsche Erstaufführungen von Strindberg und Ibsen. Die Gesellschaft hat sich in dem zeitgenössischen Autorentheater gespiegelt und selbst vergewissert. Diese Kommunikation haben wir verloren. Was du beschreibst, ist Ausdruck dieser inhaltlichen Krise, die eine Krise des Schauspielers ist, die eine Krise der Schauspielkunst ist. Diese mimetische Krise wird aufgefangen durch die postdramatische Kreation. Nicht umsonst sind es die Experten des Alltags, die bei Rimini Protokoll und anderen dokumentarischen Theaterformen von der Wirklichkeit berichten. Darin besteht aber eigentlich die ureigenste Aufgabe des Schauspielers, der geschult ist in der Wahrnehmung menschlichen Verhaltens und der es so glaubwürdig spielen kann, dass sich das Publikum in seinem Spiel kritisch reflektiert sieht.
Oberender: Aber das ist ein Interpretentheater. Das ist durch jeden anderen nachspielbar. Jedes neue Stück von Bronnen oder Brecht konnte der Regisseur XY nehmen, um es anders zu inszenieren, aber es blieb das gleiche Stück.
Ostermeier: Im Grunde genommen sind auch das Uraufführungen.
Oberender: Interpretenkunst ist übrigens auch, was die Philharmoniker machen. Es gibt eine notierte Vorlage, die wird vergegenwärtigt.
Ostermeier: Wenn sich She She Pop auf „König Lear“ bezieht, ist es genau dasselbe.
Oberender: Nein, das stimmt nicht. Man kann diese Aufführungen ebenso wenig wie den „Wallenstein“ von Rimini Protokoll nachspielen. Das sind Theaterformen, die sind ganz anders mit ihrem Material verwachsen, bzw. sie schaffen sich ihr Material selber.
Man darf die Abende von Rimini Protokoll nachspielen. Ein Verlag besitzt die Rechte an den Spielregeln, die ein Theater kaufen kann. Es bezahlt ganz normal Tantiemen. Allerdings nicht für den Text, sondern für die Spielregeln.
Ostermeier: Man kann auch von Marthaler „Stunde null“ nachspielen. Die Rechte besitzt auch ein Verlag.
Oberender: Ich rede von Stücken, die man nicht nachspielen kann, weil sie sich nicht von dem Produzenten ablösen lassen und Performancecharakter besitzen.
Ostermeier: Performances sind sie garantiert nicht, sonst würden sie nur einmal stattfinden.
Oberender: Das wäre ja ein Happening.
Ostermeier: Ich mache hier nicht Front gegen Kollektive, bei denen mit weniger steilen Hierarchien Kunst gemacht wird. Ich bin nur gegen die Unschärfe in der Aussage, dagegen, dass die Welt nur noch zersplittert in Mosaiksteinchen gespiegelt wird und überhaupt keine Ursachen und Zusammenhänge mehr aufgezeigt werden. Deswegen bezeichne ich diese Kunstform als kapitalistischen Realismus. Das ist kein Rekurs auf Gerhard Richter, sondern auf den sozialistischen Realismus, also eine affirmative Ästhetik. So übersetze ich auch deine Message „Ihr müsst damit klarkommen, dass es weniger Geld gibt“, das heißt: Ihr müsst damit klarkommen, dass es keine politisch Verantwortlichen mehr gibt, was bedeutet: Die Finanzkrise ist ein Naturgesetz. Das ist ein Tsunami, für den es keine Verantwortlichen gibt. Ich sehe eine Identität zwischen diesem Diskurs und gewissen Theaterformen. Ich sage ganz bewusst „gewissen“ und nehme ganz bewusst Leute wie Milo Rau aus, der dokumentarisches Theater macht, um politische Prozesse zu durchdringen und Ursachen zu verstehen. Aber bei vielen sehe ich das weniger. Weniger, sage ich.
Oberender: Wie würdest du die Arbeit von Schlingensief in dem Zusammenhang einschätzen? Das ist für mich eine Form von Nicht-Interpretentheater.
Ostermeier: Wir werden keinem dieser Künstler in zwei Sätzen gerecht.
Oberender: Für mich ist, was er machte, extrem politisch. Ich finde aber deinen Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, ungemein sympathisch.
Ostermeier: Das ist etwas, was unsere Dramaturgen und ich hier tagtäglich machen.
Oberender: Meine Message ist nicht, mit weniger Geld klarzukommen. Wir sollten es anders verteilen. Ich bin nicht gegen Literatur. Ich bin der Erste, der sich für Monate mit Kleist einsperren kann. Das ist doch ein Weltschatz. Ich finde es sehr gut, weiterhin zu insistieren, dass die Weisheit der Texte größer ist als unser kleines Ameisenbewusstsein. Ich will nur sagen, dass es schon immer im Theater eine Koexistenz mit nichtliterarischen Formen gab.
Ostermeier: Im 12. Jahrhundert notierte Saxo Grammaticus die erste Hamlet-Story. Slavoj Žižek siedelt Hamlet sogar in der altägyptischen Mythologie an, als einen Vorgänger des Ödipus. Shakespeare nahm diesen Stoff und die unzähligen Rächertragödien, die den Grundsound des „Hamlet“ abgeben, sampelte das Pattern Rächertragödie und machte aus diesem Pattern einen Rächer, der nicht rächen will. Das ist seine kulturelle Leistung! Er machte ein Mash- up von verschiedenen Genres, von verschiedenen Storys, von verschiedenen Figuren, brachte das Hohe und das Niedrige zusammen, machte Narrenszenen mit Totengräbern usw. Auch an unserem Haus machen wir ein Mash-up mit Populärkultur, Popmusik, Gesangseinlagen von Caterina Valente, wenn wir „Hamlet“ inszenieren. Es gibt einen literarischen Kern, und wir machen unsere neuen Stoffe daraus. Das ist mehr als Interpretationstheater! Ein Theater der Kreation und nicht von umgemodelten Vorlagen, sondern der recherchierten, aufbereiteten, kollektiv zur Aufführung verdichteten Prozesse.
Oberender: Was She She Pop mit ihren Vätern machen, generiert eine andere Art von Literatur.
Ostermeier: Mit „Lear“ als Literatur im Hintergrund.
Oberender: Eine Literatur, die tatsächlich was mit ihren konkreten Vätern zu tun hat und die du eben nicht einem Theaterschauspieler geben kannst. Werkbegriffe und Erlebnisformen von Kunst wandeln sich.
Ostermeier: Ich glaube, unser Spielplan spiegelt dies sehr gut wider, von Romeo Castellucci über Constanza Macras bis hin zu Katie Mitchell und Alvis Hermanis.
Oberender: Sie wechseln hier in den Repertoiremodus. Es braucht andere Formen, um temporäre Gemeinschaftsbildung zu betreiben, als die traditionellen Orte mit ihrer Feierlichkeit, dem Abonnement, dem Feierabendbesuch von Vorstellungen. Damit stellt sich eine Systemfrage, zu ihr gehört es auch, statt freier Szene und fester Institution andere Begriffe einzuführen. Wir können, wie gesagt, unterscheiden zwischen einer exklusiven und einer kooperativen Form von Kultur- oder Kunstproduktion. Für die exklusive Form ist das Deutsche Theater das Paradebeispiel. Alles, was am Deutschen Theater produziert wird, ist am Deutschen Theater zu sehen und eigentlich nur da. Vielleicht gibt es mal eine Koproduktion mit Salzburg, aber in der Regel produziert man exklusiv mit Eigenmitteln für sein Repertoire. Das Gegenmodell sind Spielstätten wie HAU, Kampnagel, Sophiensaele, Forum Freies Theater etc., wo sich europaweit Produzenten oder Institutionen zusammenschließen, um bestimmte Produzenten zu unterstützen. Diese kooperierenden Produktionsverhältnisse sind in der Regel Projekte, hingegen sind die exklusiven Produktionen typisch für die klassischen Institutionen. Nur sind die Mittel, die in die kooperativen Strukturen und Netzwerke fließen, viel zu gering. Eine Produktion wie „Before Your Very Eyes“ könnte an der Schaubühne nicht stattfinden, weil Gob Squad zwei Jahre lang mit Kindern geprobt hat. Das schafft kein Repertoiresystem. Aber ein Haus wie das HAU kann als ein kooperierender Partner eine solche Produktion gemeinsam mit anderen ermöglichen. Das ist eine Systemfrage. Wir müssen diese Modi ernst nehmen und sie nicht als neoliberal denunzieren.
Ostermeier: Das ist auch gar nicht mein Diskurs. Mein Diskurs ist vielmehr ein politischer über das Selbstverständnis dieses bürgerlichen Gemeinschaftswesens Bundesrepublik Deutschland.
Oberender: Feierlich ist der Kanon, die Demut, der Applaus für den Dirigenten beim Auftritt. Weil er den Geist des originalen Werkes vertritt. Weihnachten ist eine Feier. Und je mehr übergeordnete Werte unsere Gesellschaft verliert, umso mehr Feste entstehen, Festivals, Raves, Wanderausstellungen, Gemeinschaften auf Zeit, in denen sich Menschen als bestimmten Werten und Milieus zugehörig erleben. Das sind die Institutionen neuen Typs. All das ist „bürgerlich“.
Ostermeier: Ich sage einfach: Nur 0,5 Prozent des Budgets der Stadt Berlin gehen ins Sprechtheater. Punkt. Mehr brauch ich nicht zu sagen.
Oberender: Auf Bundesebene sind es 0,4 Prozent des Haushalts für die gesamte Kultur.
Ostermeier: Mehr brauchen wir nicht zu sagen. Ich habe die Zahlen für Frankreich und Österreich recherchiert. Die sind noch verheerender.
Oberender: Weißt du, wie viel ein Staat für Militärausgaben investieren muss, um Mitglied der NATO sein zu können? Das ist sozusagen eine Beitrittsbedingung für diesen Klub. Drei Prozent des Nationalhaushalts müssen von den Mitgliedsstaaten ins Militär gegeben werden. Wir liegen mit unseren Kulturausgaben weit darunter. Wir sind Europa, wir sind ein Kontinent, der sich über eine sehr spezielle Geschichte und Traditionen kulturell definiert, und wir haben uns vollkommen abgewöhnt, diese Standards selbstlos zu verteidigen.
Ostermeier: Davon rede ich! Ich rede überhaupt nicht von der Feierlichkeit der Institution.
Oberender: Trotzdem bin ich dafür, dass wir unsere Betriebe weiter zu hybriden Modellen umbauen. Das System ändert sich gerade, und dafür seid ihr als Schaubühne ein sehr gutes Beispiel. Ihr seid eigentlich ein Pilottheater. Wenn Karin Beier SIGNA nach Köln oder Hamburg holt, oder Johan Simons in München es Alain Platel ermöglicht, vollkommen anders zu proben, heißt das: Hier entstehen andere Produktionsstrukturen als die traditionell üblichen. Ein Drittel oder ein Viertel eurer Produktionen geht auf Tournee. Das ist ein ganz anderes Produktionssystem, als es ein Stadttheater hat.
Ostermeier: Wir sind extrem hybrid.
Oberender: Ihr seid ein Ausnahmemodell.
Ostermeier: Nicht nur wegen unserer Tourneen, sondern auch, weil wir Blitz hier installieren – die wichtigste unabhängige Künstlergruppe Griechenlands (von Constanza Macras und Romeo Castellucci ganz zu schweigen). Und das, obwohl wir eben nicht die dafür beantragten zwei Jahre Projektförderung vom Bundeskulturministerium bekommen. Blitz ist ein Kollektiv von drei Personen. Sie arbeiten mit den Schauspielern sehr projektorientiert, das heißt, sie entwickeln die ganze Veranstaltung über Wochen mit Gesprächen schon ein halbes Jahr im Voraus. Machen ein Intensivwochenende, gehen wieder nach Hause und arbeiten weiter. Das Blitz-Kollektiv sagt, wenn es von der Probe kommt: „Wow, ist das geil mit so guten Schauspielern wie hier an der Schaubühne zu arbeiten!“ Warum sind die Schauspieler so gut? Nicht weil wir die besten einfach einkaufen, wie es an vielen anderen Theatern üblich ist, sondern weil sie über Jahre innerhalb eines festen Ensembles die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. In der Projektkultur wäre genau das nicht möglich.
Oberender: Wird Blitz über Projektgelder mitfinanziert oder bezahlt ihr die aus eurem normalen Etat?
Ostermeier: Komplett. Kein Pfennig wird mitgebracht. Deswegen hätten wir es auch toll gefunden, wenn das BKM (der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Anm. d. Red.) gefördert hätte …
Oberender: Es gäbe keine Inszenierung von Robert Wilson am Berliner Ensemble, es gäbe keine Autorentheatertage am Deutschen Theater, es gäbe keine freien Festivals bei euch ohne Projektgelder.
Ostermeier: Ach? Das F.I.N.D.-Festival wurde das letzte Mal vor acht Jahren von der Bundeskulturstiftung gefördert, in den anderen Jahren ist uns glücklicherweise der Hauptstadtkulturfonds zu Hilfe gekommen, bzw. wir mussten es sogar selbst finanzieren.
Oberender: Ich rede nicht nur von der Bundeskulturstiftung, ich rede von Drittmitteln, die als Projektgelder neben den etatisierten Zuwendungen als Sondermittel zur Verfügung gestellt werden.
Ostermeier: Und warum ist das so? Weil die Stadt uns sagt: „Ihr dürft an euer Haus aus eurem Budget keine Produktionen einladen! Denn ihr bekommt nur Geld für die Pflege eures Repertoires.“
Oberender: Deswegen mache ich mich für einen Systemwandel stark und spreche nicht über Mittel. Wenn du das Problem so genau beschreiben kannst, dann solltest du nicht für eine Bipolarität der freien Szene kämpfen, denn du willst auch Projekte ermöglichen. Wir müssen diesen neuen Geist befördern. Darum geht es.
Ostermeier: Ich bin nicht bipolar zur freien Szene. Ich bin absolut solidarisch. Ich wehre mich nur gegen den unsolidarischen Akt zu sagen: „Von euren 16 Millionen Euro pro Jahr könnten wir soundso viele Projekte machen!“ Hier arbeiten Bühnentechniker, die kriegen mit 53 die Sachen nicht mehr geschleppt, weil sie einen Wirbelsäulenschaden haben. Sie werden trotzdem weiterbeschäftigt, und zwar selbstverständlich zu Recht: Schließlich ist es eine große Errungenschaft des deutschen Kulturbetriebs, dass man mit Mitarbeitern Arbeitsverträge abschließt, die feste Regeln haben. In der freien Szene wären sie Hartz-IV-Fälle.
Oberender: Genau deswegen musst du für einen Systemwandel plädieren und sagen: „Lasst uns an hybriden Modellen arbeiten!“ Sonst wird das System nicht überleben!
Ostermeier: Das ist doch totaler Quatsch!
Oberender: Das ist die absolute Wahrheit!
Ostermeier: Schon deine Eingangssequenz „Gürtel enger und Kleid ablegen“ ist absoluter Schwachsinn! Deutschland hat acht Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen als erwartet.
Oberender: Dann pass mal auf: 2016 kommt die Schuldenbremse!
Ostermeier: Na und?
Oberender: Dann werden keine neuen Schulden mehr gemacht werden können, und die Mehreinnahmen werden … Das ist doch ganz logisch, was dann passiert!
Ostermeier: Du solltest im Finanzministerium arbeiten! Wir leben in der Zeit der Umverteilung. Die Reichen werden immer reicher. Die Armen werden immer ärmer und werden prekarisiert, und es geht ihnen immer schlechter, und das ist Fakt. Es war Gerhard Schröder, der den Höchststeuersatz runtergesetzt hat. Ein Höchststeuersatz, der bei Helmut Kohl sozialdemokratischer war als bei Gerhard Schröder!
Oberender: Tatsache ist doch, dass die Etats seit zehn Jahren nicht mehr erhöht wurden.
Ostermeier: Aber nicht weil wir arm werden, sondern weil andere Prioritäten gesetzt werden.
Oberender: De facto zehren sich die Betriebe aus, weil sie die Kostenauswüchse durch Management auffangen müssen. Das alte System ist am Zusammenbrechen. In dieser Situation lautet die Antwort nicht einfach: Wir brauchen mehr Geld, sondern: Wir brauchen ein Nachdenken über Strukturen, ein gesamtpolitisches Bewusstsein, wie die Kommunen ab 2020, wenn die Schuldenbremse greift, ihr Theater finanzieren können. Und zwar ein Theater, das nicht mehr nur auf die Bedürfnisse eines Repertoire- oder Interpretenbetriebs abgestimmt ist. Das ist unsere Aufgabe. Mein Vorschlag wäre, dass Projektgelder in einem hohen Maße über den Bund verteilt werden und in dezentrale Strukturen fließen, wobei die Vergabe an deren Existenz gekoppelt wird und anderen, kooperativen Zielen folgt, eben weil der Bund andere Prioritäten setzen sollte als die Regionen.
Ostermeier: Das widerspricht aber deiner Behauptung, dass es um weniger Geld geht! Das ist doch der Antrieb – weniger Geld!
Oberender: Wenn wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Projektförderung auch eine Förderung von Hochkultur ist und nicht nur von Kiezkultur, und dafür kämpfen, dass die Kulturstiftung des Bundes nicht nur 36, sondern 360 Millionen Euro bekommt, haben wir ein Modell, das fähig ist, die Arbeit von Künstlern in Stuttgart, in München, in Bochum zu finanzieren, die mit den Ensembles der Häuser zusammenarbeiten.
Ostermeier: Das darf aber nicht sein!
Oberender: Warum nicht?
Ostermeier: Das erklärte Ziel des Hauptstadtkulturfonds und der Kulturstiftung des Bundes ist es, Dinge zu ermöglichen, die es sonst nicht gäbe, und sie reagieren völlig zu Recht ganz allergisch, wenn eine institutionelle Förderung in einem Antrag durchschimmert.
Oberender: Du betrachtest Projektmittel als eine Form von Extrahonorierung. Das ist vollkommen falsch! Es gibt inzwischen eine Struktur neuen Typs, die vollkommen über Projektmittel finanziert wird, gesponsert vom Hauptstadtkulturfonds, der Kulturstiftung des Bundes, Sparkassen, Stiftungen, Allianzstiftungen usw. Marktorientierter geht es fast nicht, schlanker geht es fast nicht. 90 Prozent einer weltstädtischen Kultureinrichtung wie der Gropius-Bau beruhen auf Projektförderung.
Ostermeier: Das ist ein Problem, weil sie keines ihrer Projekte auf eine verlässliche Finanzierung stützen können, und wenn du dich mit deiner Idee durchsetzt, hast du mehr oder weniger das holländische Modell installiert. Wie kannst du dann garantieren, dass eine Kommune dies nicht als Freifahrtschein nimmt, um über Nacht die Förderung zu streichen?
Oberender: Das ist kein Problem! Nur müssen Dimension und Struktur der Projektförderung dem Rechnung tragen. Dieser neue institutionelle Typ von Kampnagel bis HAU, die alle darauf beruhen, dass sie nicht mehr wirklich Produktionshäuser im exklusiven Sinne sind, sondern von Netzwerkprojekten leben, haben das Bedürfnis nach anderen Ressourcen. Das ist im Budget der Bundeskulturstiftung nicht abgebildet, und darum muss nachgerüstet werden, denn ansonsten wird Armut bei den Produzenten erzeugt. Die Töpfe – das erleben wir in Berlin – reichen hinten und vorne nicht für diese Produktionslandschaft. Das ist das, was ich mit Nachregulieren meine.
Ostermeier: Das sage ich doch: Alle Künstler wollen bessere Arbeitsbedingungen.
Oberender: Es geht um einen Systemwandel. //