Stück Labor – Neue Schweizer Dramatik
Wieso fühlen wir uns von der Kleinfamilie so angegriffen?
Ein literarisches Gespräch zwischen Anne Haug und Ariane Koch über „Ich bin gekommen, um zu sagen, dass ich gehe (AT)“ von Anne Haug
von Anne Haug und Ariane Koch
Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)
Assoziationen: Dramatik Schweiz Theater Basel Theater St. Gallen
Wann soll mensch wiederkommen?
Wenn wir uns auf die Rückkehr freuen. Wenn wir gebraucht werden. Wenn wir uns woanders gefunden haben.
Wieso soll mensch wiederkommen?
Weil uns das Sicherheit gibt, wenn wir wissen, dass wir wiederkommen. Vielleicht ist das eine der Lügen, die wir uns immer wieder erzählen. Dass wir alle irgendwann wiederkommen.
Ist Weggehen ein Luxusgut?
Weggehen ist Freiheit und Freiheit ist Luxus. Also, ja. Aber freiwillig dazubleiben, wäre dann dasselbe. Oder nicht?
Ist Weggehen der einzige Luxus, den wir haben?
Die Entscheidung ist der Luxus. Aber mich beschäftigt die Frage schon immer, warum manche bleiben und andere gehen. Wieso ist das so?
Weggehen verändert nicht nur die Weggehenden, sondern auch die Zurückgebliebenen. Diese müssen mit der Abwesenheit zurechtkommen und werden dadurch auch andere. Wenn niemand weggehen würde, blieben alle gleich.
Aber zum Glück gehen nicht alle, denn sonst würde ja niemand auf die Weggegangenen warten.
Wann kommst du wieder?
Ich sage immer, bald.
Soll mensch sagen, dass sie geht oder einfach gehen?
Warum feiern manche ihre Abschiede und andere nicht?
Leben ist die riesige Ansammlung von Abschieden abarbeiten?
War/ist jede Kindheit traurig?
Ich glaube, ja. Man darf die Traurigkeiten einfach nicht vergleichen. Und die traurige Gestalt der Kindheit verändert sich wahrscheinlich auch, umso älter wir werden.
Ist jedes Kind traurig?
Sich mit dem Leben auseinanderzusetzen, macht traurig.
Wieso mag ich den Namen Tamara nicht?
Er ist böse. Warum, weiß ich auch nicht. Warum magst du ihn nicht?
Wegen klassistischen Vorurteilen, befürchte ich?
Wer kommt auf die Idee, eine Bushaltestelle orange zu streichen?
Will die Bushaltestelle gesehen werden? Vielleicht würde der Bus sonst einfach vorbeirasen. Vergiftet uns die Provinz?
Es gibt weniger Lebensentwürfe und mehr Kontrolle in der Provinz. Aber umgekehrt hat man in den Metropolen den Druck der perfekten Wahl und Anonymität. Diese kann wunderschön sein oder einsam machen. Es gibt dieses gesellschaftliche Narrativ, dass mensch wissen sollte, wo er leben will. Es bleibt ihm nichts anderes, als es auszuprobieren.
Ist dieses Land zu klein?
Eindeutig. Aber deshalb geht es uns mitunter so gut.
Stadt oder Land?
Stadt. Immer Stadt. Mit Fluchtoption aufs Land.
Hundehaus oder Villa?
Kann man sich das aussuchen?
Monogamie oder Utopie?
Ich glaube, beides ist ein Wunsch, oder?
Paradies oder Wissensdurst?
Meditation oder Rausch?
Rausch. (Meditation kann auch Rausch sein.) Kleinfamilie oder Hate Speech?
Darauf gibt es keine richtige Antwort. Die Tamaras haben sich dazu entschieden, in der Provinz zu bleiben. Und im System der Kleinfamilie zu leben. Das zu verachten, wie meine Figur in dem Text dies tut, ist einfach. Ich glaube, alle haben die Sehnsucht nach dem, was sie nicht haben. Wir können uns heute entscheiden, welche Lebensmodelle wir wählen. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Denn da kommen Gender, Klassismus, Rassismus und andere mögliche Ausschlusskriterien ins Spiel. Aber die Verantwortung für unsere Entscheidungen tragen wir allein. Wenn ich mich gegen die Kleinfamilie entschließe, dann muss ich das mit mir ausmachen, genauso, wie wenn ich mich dafür entscheide. Die Verachtung den jeweils anderen Entscheidungen gegenüber ist eine Projektion der eigenen Sehnsucht. Und ein Produkt der eigenen Ratlosigkeit?
Geständnis oder Lüge?
Rache oder Lachen?
Nimm es doch mit Humor. Das hat nichts mit dir zu tun. Das ist doch Vergangenheit. Da musst du drüberstehen. Mit diesem Mantra verhindern wir viele Racheakte. Mich interessieren die Abgründe im Kopf eines jeden Menschen. Was wäre, wenn wir unsere Rachefantasien bis zur letzten Konsequenz ausleben würden?
Müssten wir uns nicht an einer ganzen Gesellschaft, am Kapitalismus, am Patriarchat, an Traditionen und Konventionen rächen? Aber wie kann man sich an diesen Dingen überhaupt rächen?
Vielleicht ist Schreiben ein guter Anfang.
Kinderlos oder pausenlos?
Das Atemlose des Textes ist die Vermeidung von Pause. Denn in Pausen wird man traurig. In Pausen denkt man nach.
Win for Life oder Lost Forever?
Ich glaube, es ist der Horror, im Lotto zu gewinnen. Ich habe kürzlich einen Podcast gehört mit einem Mann, der Lottogewinner:innen berät. Das Wichtigste ist wohl, es niemandem zu sagen. Das Gemeine ist, dass das ja gar nicht geht. Wenn man davor arm war, müsste man das Geld für immer verstecken.
Grundeinkommen oder self made money?
Erben oder Spenden?
Wer entscheidet, wo mensch zuhause ist?
Jede:r selber. Ob man da zuhause ist, wo man herkommt, merkt man erst, wenn man weggeht. Wie du sagst, wenn wir alle bleiben würden, blieben wir alle gleich.
Brauche ich ein Wasserbett?
Ich bin seekrank. Wenn ich an ein Wasserbett denke, wird mir schlecht. Aber brauche ich hin und wieder trotzdem eins, um dazuzugehören? Oder um ein bisschen zu schwanken?
Wie kann mensch zur Abschaffung des Wasserbetts beitragen?
Gibt es eigentlich auch Sandbetten?
Wer wollen wir sein?
Und wer und was macht uns zu dem, was wir sind?
Wer wollen wir nicht sein?
Das, was wir gerade nicht sein können?
Ein Star?
Whisky oder Negroni?
Redest du gern?
Ich mag es ja, wenn für mich gesprochen wird, dass es meine Worte sind, die sich jemand im Mund zurechtlegen muss, damit sie auch ein bisschen zu seinen werden. Ich habe selbst nie gerne gesprochen: Vielleicht weil ich aus einer wortkargen Familie komme – bis auf meine halbholländische Grossmutter, die hat immer geredet, wie ein Wasserfall –, vielleicht weil ich oft einen Satz anfange und mir dann kein passendes Ende dazu einfällt und ich also in Satzmitten herum zu stammeln verdammt bin.
Wieso weiss mensch meistens, was mensch sagen will?
Wieso weiss ich es selten?
Wann weiss mensch es nicht?
Und wieso schreibt man so, als ob er es wüsste?
Was ist der richtige Text?
Der richtige Text ist der konventionelle Text und der ist langweilig?
Wann ist Text richtig?
Kann Text überhaupt richtig sein?
Oder falsch?
Wer bestimmt das?
Wie oft fängst du beim Schreiben wieder von vorne an?
Nie und ständig. Ich schreibe oft nachts im Kopf. Dann weiss ich die Lösung und kritzel sie auf ein Blatt, und am nächsten Morgen verstehe ich sie nicht mehr. Ich schreibe auch oft im Kopf, zum Beispiel beim Fahrradfahren, dann bin ich der festen Überzeugung, dass ich mich später noch Wort für Wort daran erinnern werde können – was noch nie eingetroffen ist. Aber mir gefällt der Gedanke, dass irgendwo unsere vergessenen, unverstandenen Texte herumschwirren.
Ist Schreiben Verzweiflung?
Dass es gar nicht schwer sein muss, ist eine Erlösung.
Ist Schreiben Macht?
Ich finde schon. Schreiben ist Weltenerfinden. Und dann kommt der Moment, wo andere Menschen sich diese Welten in ihre Münder legen.
Hat Text Macht?
Texte – meine und andere beherrschen mich – aber mensch kann sich auch dagegen auflehnen. Wie Texte ihren Weg aus dem Kopf auf das Papier herausfinden müssen, kann einen auf jeden Fall auffressen.
Ist Text auf dem Papier mächtiger oder wenn er gesprochen wird?
Was ist wichtiger, Worte oder Bilder?
Was ist überhaupt der Unterschied zwischen Worten und Bildern?
Ich finde es gut, wenn nicht alle Fragen beantwortet werden (wollen). Oder die Antwort wieder eine Frage ist.
Kann mensch beim Schreiben Wünsche erfüllen?
Ja, das ist ein schöner Gedanke.
Sich selber oder anderen?
Soll sich mensch beim Schreiben mehr um seine:ihre Wünsche oder um die der anderen kümmern?
Ich glaube daran, dass ein Text Menschen miteinander verbinden, sie miteinander teilen lassen kann.
Was ist überhaupt ein Wunsch?
Wünsche sind irgendwie sanft. Das ist ihr Vorteil. Sie sind wie einer der großen Pullis.
Gibt es eigentlich das Radio-Wunschkonzert noch?
M. und Z. haben mal auf einer Autofahrt ständig unter meinem Namen beim Radio-Wunschkonzert angerufen. Ich bin währenddessen mit dem Zug gefahren.
Ich habe das als Kind geliebt. Es ist der einzige Ort, wo Wünsche direkt erfüllt werden. Wieso hab ich da nie angerufen?