Schauspielhaus Wien: Meta-Momente im Shlushy-Becher
„Grelle Tage“ von Selma Matter (UA) – Regie Charlotte Lorenz, Bühne Camilla Lønbirk & Olivia Schrøder, Kostüme Josefin Kwon, Musik Florentin Berger-Monit & Johannes Wernicke
von Theresa Luise Gindlstrasser
Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Charlotte Lorenz Selma Matter Schauspielhaus Wien

Jo ist entschieden, die Klimakatastrophe nicht zu ignorieren. Der 13 Jahre alte Mensch steht am Rande eines Muschelfeldes in Brandenburg und erklärt: „Ich mache meine Augen nicht mehr zu. Nie mehr. Lieber steck ich mir Zahnstocher zwischen die Lider, um sie aufzusperren. Eine Sekunde hab ich nicht hingesehen und der See hat beschlossen, zu gehen. Er hat sich einfach über Nacht davongemacht“. Dafür kommt plötzlich aus dem tauenden Permafrost daher: der zerfledderte Hund, also ein 13.000 Jahre alter Wolfshund. Gemeinsam werden die beiden einen Roadtrip unternehmen, um ein Loch im sich in Auflösung befindlichen Matterhorn mit Kieselsteinen aus dem Baumarkt zu füllen: „Nicht anders als bei einem Zahn“. Währenddessen versuchen Archäolog:innen und Mammutdealer in Jakutsk Profit aus dem Schmelzen des ewigen Eises zu schlagen. Die Häuser wanken auf dem schlammigem, unsicheren Grund.
Mit „Grelle Tage“, dem Gewinnerstück des Hans-Gratzer-Stipendiums 2022, legt die Autorin Selma Matter einen in der Themensetzung brandaktuellen Text vor, der auf der Ebene des verspielten Schriftbildes Parallelhandlungen in Ostdeutschland, Sibirien und der Schweiz notiert. So wird eine Synchronität der multiplen Krisen im Kontext des Klimakollaps markiert. QR-Codes, Internetlinks und Fotos stehen gleichberechtigt zwischen Gesagtem, Gedachtem und den erzählerischen Regieanweisungen. Hier soll also nicht von isolierten Problemen erzählt werden, sondern von komplexen Zusammenhängen. Matter studierte zunächst Literatur, Theater und Philosophie in Hildesheim und ist nun fürs Szenische Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Ihr gemeinsam mit Marie Lucienne Verse entstandenes Stück „Alice verschwindet“ wurde 2022 mit dem Thomas-Bernhard-Stipendium ausgezeichnet und im Dezember am Landestheater Linz uraufgeführt.
Die Uraufführung von „Grelle Tage“ am Schauspielhaus Wien fand nun in der Inszenierung von Charlotte Lorenz mit einem sechs-köpfigen Ensemble statt. Ihr Studium absolvierte die Regisseurin an der Ernst Busch in Berlin und präsentierte mit „Rebel Clown Misery“ am Theater Drachengasse 2021 erstmals eine Arbeit in Wien. „In drei Szenen (in denen die Schauspieler:innen aus ihren Figuren heraustreten) wurde Selma Matters Stücktext durch im Probenprozess entstandene Dialogtexte ergänzt“, informiert das Programmheft. Weil der Tonfall des Abends sowieso zwischen distanziertem Deklamieren und ironischer Überzeichnung changiert, fügen sich die Meta-Momente nahtlos ins Geschehen. Einzig Nico Werner Lobo (das Kind, das zunächst als zerfledderter Hund, später nach dem Rollentausch mit Til Schindler als Jo auf der Bühne steht) bringt zerbrechlichere Nuancen zu Gehör.
Zwischen Slush-Eis-Automat, Zuckerwatte-Maschine und Tiefkühltruhe – die Bühne von Camilla Lønbirk und Olivia Schrøder zitiert eine verlassene Zuckerbude herbei – jagt eine visuelle Idee die nächste. Mal fallen Tischtennis-Bälle von oben auf die Bühne herab und springen für den Steinschlag am Matterhorn wie wild über den Boden. Dann greift ein per Video übertragenes Parallelgeschehen hinter dem Vorhang die im Text gesetzte Synchronität der Geschehnisse auf. Und am Ende wird nicht nur der Slush-Eis-Automat entleert und der Tiefkühltruhe unendlich viel Kies entnommen, sondern der einst weiße Vorhang von roter Flüssigkeit überlaufen sein. Die verschwenderische Opulenz der Bilder lässt den 70-minütigen Abend ganz schön langatmig sein.
Erschienen am 17.1.2023