sprache
Den Graben überwinden
Die Übersetzerin und Dramatikerin Alexis Diamond über ihr persönliches Sprachdilemma in Québec
von Alexis Diamond
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)
Assoziationen: Dramatik Akteure Nordamerika
Ich bin in zwei Sprachen aufgewachsen. Englisch, der Sprache meines Elternhauses, und Französisch, der Sprache, die ich in der Schule lernte. Zwischen beiden erstreckt sich ein tiefer Graben, den man in Québec als Sprachpolitik bezeichnet. Das Englische, die Sprache der Eroberer, steht hier, historisch bedingt, für kulturelle Unterdrückung und die Durchsetzung von Territorialansprüchen. Sobald ich also in meiner Heimatprovinz, in der meine Familie seit fünf Generationen lebt, den Mund aufmache, werde ich als Vertreterin der Unterdrücker behandelt, und nicht als Nachfahrin unterdrückter osteuropäischer Jüdinnen und Juden. Es ist absurd, in Québec, der einzigen französischsprachigen Provinz Kanadas, bin ich doppelt in der Minderheit. Durch meine Herkunft und meine Zugehörigkeit zur englischsprachigen Bevölkerung. Ein Symbol dieser Absurdität ist das vom Québecer Bildungsministerium ausgestellte Zeugnis, das mir muttersprachliche Französischkenntnisse bescheinigt. Doch es stimmt nicht, mein Französisch ist ein wildes Sammelsurium von Gelerntem, verdauten Texten und Errungenschaften aus dem Lexikon, gewürzt mit zufällig aufgeschnappten Ausdrücken und Übersetzungen aus dem Englischen. Eine Muttersprache kann man nicht lernen. Sie wird im Leib und durch den Atem der Mutter weitergegeben. Doch schon als Kind hätte ich mir das Québecer Französisch als Muttersprache gewünscht. Es ist eine kraftvolle, poetische, raue, stilisierte, bildreiche, tief verwurzelte, ergreifende und unanständige Sprache,...